Das Beste aus meinem Leben

Ich glaube, ich habe es hier schon mal erzählt, aber für die, die damals nicht dabei sein konnten, noch mal kurz Folgendes: Als ich sehr klein war, hatte ich die Vorstellung, dass, wenn man im Radio ein Orchester spielen hört, dieses Orchester tatsächlich in diesem Moment irgendwo sitze und spiele. Über die Existenz von Plattenspielern und Schallplatten wusste ich nichts, weil meine Eltern damals keinen Plattenspieler hatten. Ich bin schon ein alter Mann, liebe Kinder, und meine Eltern waren damals sehr arm, so arm, dass wir, wenn wir Schallplatten gehabt hätten, sie sofort mit Margarine-Ersatz bestrichen und aufgegessen hätten.

Diese meine Vorstellung war übrigens eine Fortentwicklung meiner ursprünglichen Vorstellung, die ich als sehr, sehr kleines Kind hatte: dass nämlich das Orchester sich im Radio drinnen befinde, ein kleines Orchester also. Dass dies nicht der Wahrheit entsprach, bekam ich heraus, als ich eines Tages das Radio auseinanderschraubte, um mir das kleine Orchester anzusehen. Als ich es nicht fand, versuchte ich das Radio wieder zusammenzuschrauben, was mir aber nicht gelang, sodass ich die Einzelteile mit Margarine-Ersatz bestrich und aufaß.

Meine Eltern bekamen heraus, was ich getan hatte, und ich musste zur Strafe zwei Jahre lang Blockflötenunterricht nehmen, außerdem zu jeder vollen Stunde am Küchentisch die Nachrichten vorlesen, bis mein Vater genug Geld für ein neues Radio hatte. An dem Tag, an dem er es kaufte, durfte ich meine Blockflöte im Garten eingraben, damit daraus ein großer Blockflötenbaum würde, wie mein Vater sagte.

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Fünf Jahre darauf bekamen wir unseren ersten Fernseher. Welche Vorstellungen ich dazu entwickelte, erzähle ich nicht, außer vielleicht, dass ich mich fragte, wieso die Menschen im Apparat nur schwarz-weiß waren, solche Leute hatte ich in unserer Stadt nie gesehen. Aber das nur nebenbei.

Ich finde es noch heute eine reizvolle Vorstellung, dass jedes Mal, wenn ein Radiosender einen Song von Madonna spielen möchte, der Redakteur bei Madonna anruft, die sich von einem Sofa erhebt, vor ein Mikrofon tritt und singt. Sich wieder setzt und auf den nächsten Anruf wartet. Es würde für etwas mehr Bescheidenheit im Pop-Geschäft sorgen, glaube ich. Für noch mehr Bescheidenheit wäre gesorgt, wenn nach einer Anmoderation des Radio-DJs eine kleine Madonna an meiner Tür klingeln, ins Radio klettern und dort Hung up singen würde.

Aber was wollte ich eigentlich erzählen?

Ich wollte erzählen, dass ich kürzlich mit Luis in der Bankfiliale war, wo wir die Zinsen in sein Sparbuch eintragen lassen und außerdem nachsehen wollten, ob der Opa ihm wieder ein biss-
chen Geld überwiesen hatte. Wir mussten in der Schlange warten. Luis schaute sich um, dann fragte er mich, ob er wohl seinen Safe sehen dürfe.

»Wie meinst du: deinen Safe?«, fragte ich.
»Na, meinen Safe … In dem mein Geld ist.«
Es stellte sich heraus, dass er der Meinung war, jeder Kunde der Bank habe seinen Safe mit seinem Geld. Oder wenigstens habe im großen Safe jeder sein Eckchen, in dem auf einem Stapel sein Geld liege und liegen bleibe, bis er es abhole.

Ich stellte mir vor, wie in diesem Fall ein Bankangestellter jeden Morgen zu den Geldstapeln gehen müsste, um jeweils ein paar Cent oder einige Scheine als Zinsen dazuzulegen. Dann erzählte ich Luis vom Orchester im Radio. Er lachte. »Das hast du geglaubt?«

»Du glaubst auch, dass jeder in der Bank seinen Geldstapel hat«, sagte ich und erklärte ihm, wie es wirklich ist.
Dann dachte ich, wie schade es sei, dass ich ihn solcher Vorstellungen beraubt hatte. Danach dachte ich, dass es auch schön ist, wenn man weiß, wie die Wahrheit aussieht und welche Fantasien man als Kind an Stelle der Wahrheit setzen kann. Dann dachte ich noch, wie schön das Leben ist, wenn man ein Konto mit Geld, einen CD-Spieler daheim und einen fantasievollen Sohn hat.

Illustration: Dirk Schmidt