Das Beste aus meinem Leben

Es war Nacht, ich war 51 geworden und saß in der Küche, trank noch ein Bier und erzählte Bosch, meinem sehr alten Kühlschrank und Freund, ich hätte gelesen, jeder Mann komme zwischen 45 und 60 einmal in eine große Krise. Viele gäben es nur nicht zu.»Ich gebe es zu«, sagte ich dann. »Ich bin in der Krise.«»Du bist in der Krise, seit ich dich kenne«, sagte Bosch. »Das ist nichts Besonderes. Etwas Besonderes wäre, wenn du nicht in der Krise wärst.«
»Das könnte ein Satz von Paola sein«, sagte ich.
»Der Unterschied ist, dass ich dich schon sehr viel länger kenne, als Paola dich kennt«, sagte Bosch.

Des Weiteren hätte ich gelesen, redete ich weiter, es sei eine schlechte Angewohnheit von Müttern aufzuessen, was ihre Kinder nicht aufgegessen haben.
Genau das tue ich aber, sagte ich: Ich esse, was meine Kinder nicht aufgegessen haben. Wenn Sophie einen Rest von ihrem Frühstücksbrot auf dem Teller lässt – ich esse ihn. Wenn Luis sein Stück vom Schweinsbraten nicht schafft – ich nehm’s.
Aber ich bin keine Mutter. Ich bin ein Vater.

Das treibt mich noch tiefer in die Krise: dass ich mir diese schlechte Angewohnheit zu eigen gemacht habe. Und dass es eine weibliche schlechte Angewohnheit ist.
»Tust du das, weil du in der Krise bist, oder bist du in der Krise, weil du das tust?«, fragte Bosch.
»Beides«, sagte ich.

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Jedenfalls nehme ich deswegen zu. Und ich habe auch gelesen, dass Menschen, die sehr alt werden, in der Regel unterdurchschnittlich wenig essen.
Vor Jahren habe ich mal eine Familie besucht, in der die Kinder den Vater »Mülli« nannten, weil er die Reste von den Tellern der anderen aß. Ich fand das entsetzlich. Und nun bin ich selbst so. Jedenfalls ein bisschen. Ich erinnere mich, dass auch meine Mutter heimlich in der Küche aß, wenn alle anderen sich vom Esstisch erhoben hatten.

Sagte ich schon, dass ich in der Krise bin? Mit 51 spürt man, wie die eigene Zukunft zusammenschnurrt. Plötzlich besteht das eigene Leben viel mehr aus Vergangenheit und Gegenwart als aus Zukunft. Manche Männer verlieben sich dann noch mal, um eine neue Perspektive zu bekommen. Aber ich liebe Paola viel zu sehr. Manche werden auch zum ersten Mal Vater. Aber ich habe schon Kinder. Andere hängen plötzlich, weil ihr Magen so empfindlich ist, einen Bierwärmer ins Glas. Aber die haben keinen sehr alten Kühlschrank, der zu ihnen sagen würde: »Da haben wir es: Du willst kein kaltes Bier mehr. Du willst mich endlich loswerden…«Übrigens glaube ich, dass es ein Leben nach dem Tod tatsächlich gibt: in Angewohnheiten wie der erwähnten nämlich. Oder in Gesten. In der Art zu reden. Ich beobachte mich und sehe plötzlich eine Handbewegung, die nur mein Vater machte. Ich tue etwas, was meine Mutter tat – und was ich selbst als Kind verabscheute. Das ist nicht unbedingt die Art Leben nach dem Tod, welche die Verstorbenen sich gewünscht haben. Es ist auch nicht die Art Leben, nach der die Lebenden sich sehnen. Aber Leben ist es, irgendwie.

Und wenn ich mir selbst lausche, höre ich mich auf einmal Dinge sagen, die nur die eigenen Eltern sagten: Komm du mal in mein Alter! Sieh du mal, wie schwer es ist, Geld zu verdienen! Solche Sätze. Solche blöden Sätze. Wie habe ich sie gehasst!
Wie soll man da nicht in der Krise sein? Wenn ich noch weiter lausche, höre ich wieder meinen Kühlschrank reden. Dieser Kühlschrank sagt: »Es gibt nur eines, das schlimmer ist, als 51 zu werden: nicht 51 zu werden.«
»Du nimmst mich nicht ernst«, sagte ich.
»Warum sollte ich dich ernst nehmen, nach so vielen Jahren?«
»Wie soll jemand nicht in der Krise sein, dessen Krisen nicht mal von seinem Kühlschrank ernst genommen werden?«, sagte ich.

Illustration: Dirk Schmidt