Das Beste aus meinem Leben

Was ist das Leben? Eine Linie? Ein Berg? Ein Baum? Ein Fluss? Eine Spirale?

Ich werde es Ihnen sagen: Das Leben ist ein Kreis. Man denkt lange Zeit, es geht voran, alles ist neu – und plötzlich kommt der Tag, an dem einem vieles bekannt vorkommt. Sehr bekannt.
So weit bin ich jetzt.

Luis ist am Gymnasium. Wenn einer am Gymnasium ist, muss er Hausaufgaben machen. Wenn einer Hausaufgaben macht, muss man ihm ab und zu dabei helfen, und wenn man ihm dabei helfen muss…
Also, ich mache jetzt wieder Hausaufgaben.

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In den Zeiten, in denen ich das Leben noch für eine Linie, einen Berg, einen Baum, einen Fluss oder auch eine Spirale hielt, dachte ich, es werde Dinge geben, mit denen ich im Leben ab einem bestimmten Punkt nie wieder zu tun haben würde. Zum Beispiel habe ich mein Mathematik-Abitur nur geschafft, weil ich dachte, ich würde danach nie wieder etwas mit Mathematik zu tun haben. Das schien mir ein großartiges Ziel! Nicht sitzen bleiben! So schnell wie möglich: frei sein! Von Mathe. Es war absurd: Ich paukte Mathematik, um nie wieder Mathematik haben zu müssen. Das ist, also ob einer seinen Führerschein macht, um danach nie wieder Auto fahren zu müssen.

Ein erster Zweifel am Glauben, das Leben könnte eine Linie, ein Berg, ein Baum, ein Fluss oder auch eine Spirale sein, stellte sich ein, als ich die Universität betrat, im Glauben, in einem geisteswissenschaftlichen Studium werde Mathematik nicht vorkommen. Dann musste ich als Erstes eine Statistik-Prüfung machen. Ich kam mir vor wie Bill Murray in Und täglich grüßt das Murmeltier.

Und nun kommt der Luis aus der Schule und steht vor der Frage, sagen wir: »Gregor möchte von seinem Taschengeld (12 Euro pro Monat) ein Jahr lang zwei Fünftel sparen. Wie viel Geld würde er dann in diesem Jahr sparen? Was könnte er sich davon kaufen?«

Luis grübelt und grübelt. Ich sage: »Schau mal, der Gregor, er bekommt weniger Taschengeld als du und spart noch etwas davon.«»Ich kenne keinen Gregor«, sagt der Luis. »Außerdem wäre es einfacher, wenn er 15 Euro bekäme, weil sich das leichter durch fünf teilen lässt. Wie soll ich zwölf Euro durch fünf teilen?«Er grübelt und grübelt.
»Rechne es halt mit Cent«, sage ich. Er rechnet: Am Ende des Jahres wird Gregor 57,60 gespart haben.

»Da siehste mal…«, sage ich.
»Ja, aber was soll er sich dafür kaufen?«»Ein, zwei Mathebücher«, sage ich.»Gregor, dein Leben ist sinnlos!«, sagt Luis.

Er rechnet die anderen Aufgaben. Rechnet aus, wie viel Liter Himbeerlimonade Gregor aus 0,425 Litern Sirup herstellt, wenn man einen Teil Sirup mit drei Teilen Wasser mischt. Und wie viel Gregors neue Jeans kostet, wenn die Oma ihm 14 Euro gibt und das zwei Fünftel des Preises sind. Und wie viele neue Englischwörter Gregor lernen muss, wenn er sich zwölf dieser Wörter gut merken kann und wenn diese zwölf drei Fünftel sind.

Ich kontrolliere die Ergebnisse. Um Ergebnisse kontrollieren zu können, muss man die richtigen kennen. Um sie zu kennen, muss man alles selbst rechnen, obwohl heute außer Schülern kein Mensch so was mehr selbst rechnet, weil es Taschenrechner gibt. Trotzdem müssen wenigstens die Schüler es lernen, sonst sind wir eines Tages total von Taschenrechnern abhängig, und wenn uns dann die Chinesen oder die Außerirdischen alle Taschenrechner wegnähmen, wären wir hilflos und könnten uns nicht mal mehr eine Himbeerlimonade mixen.

Vielleicht sollte ich ihn seine Hausaufgaben allein machen lassen. Das muss ich sowieso, wenn wir zu Euklid und Pythagoras kommen. Mein Vater hat mir auch nicht geholfen. Konnte er nicht, er hatte nur mittlere Reife.

Ich aber habe Abitur. Manchmal denke ich: Ich werde noch mal Abitur machen.
Denn das Leben ist ein Kreis.

Illustration: Dirk Schmidt