Als ich klein war, führte mein Schulweg über einen Bürgersteig, der mit quadratischen Platten gepflastert war. DAS GESETZ bestand nun darin, dass ich auf diesem Weg nie die Ritzen zwischen den Gehwegplatten berühren durfte; mein Fuß musste immer auf der Platte selbst aufsetzen. Das war keine einfache Sache, sowieso schon nicht. Aber an manchen Tagen erhöhte ich den Schwierigkeitsgrad der Einhaltung DES GESETZES noch, indem ich zur Schule rannte, ich musste also jeden einzelnen Schritt sorgfältig, höchst konzentriert und blitzschnell setzen. Denn DAS GESETZ besagte: Berührst du mit deinem Fuß den Spalt zwischen zwei Quadraten, wirst du auf der Stelle zu Asche zerfallen.
Natürlich gelang mir das nicht immer. Es gab Tage, an denen ich auf Grund einer milli-sekundenlangen Konzentrationsschwäche den Plattenzwischenraum touchierte. Seltsamerweise war nun festzustellen, dass ich keineswegs zum Aschehäuflein wurde, obwohl, wie gesagt, DAS GESETZ anders lautete. Irgendjemand, der die Einhaltung DES GESETZES überwachte, musste nicht auf-gepasst haben, er hatte mein Missgeschick nicht gesehen, sodass ich den Weg unbehelligt fortsetzen konnte. Dennoch galt es, weiter wachsam zu sein! Man wusste nie! Noch viele Monate lang war ich auf dem Schulweg sehr aufmerksam. Ich denke, dieser Tatsache habe ich zu verdanken, dass ich hier sitzen und diese Erinnerung aufschreiben kann.
Irgendwann aber achtete ich nicht mehr auf die Gehwegplatten. Ich ging, wie mir zumute war, ohne jede Folge. Ich vermute, DAS GESETZ ist irgendwann geändert worden. Man durfte nun die Ritzen betreten. Ist ja heute noch so.
Ich lernte daraus: Das Schicksal ist bisweilen schludrig. Zum Beispiel hieß es früher immer, man müsse seinen Teller leer essen, sonst gebe es morgen kein schönes Wetter. Ich aß meinen Teller immer leer! Aber sehr oft war am nächsten Tag ein Scheißwetter, woraus man nur einen Schluss ziehen konnte: Man hatte an zuständiger Stelle nicht beachtet, dass ich aufgegessen hatte, es war denen schnurzegal gewesen, sie waren mit was anderem beschäftigt, anderen Kindern, anderen Tellern. Trotzdem esse ich bis heute immer auf. Ich möchte nicht schuld sein, wenn es morgen nieselt. An mir soll’s nicht liegen. An mir hat es auch noch nie gelegen! Für schlechtes Wetter sind andere verantwortlich, ich nicht.
In der Welt las ich ein Interview mit Jim Kerr, dem Sänger der Simple Minds. Kerr ist Fan von Celtic Glasgow, dem Fußballklub. Er hat die Angewohnheit, bei Spielen das Stadion eine Viertelstunde vor Schluss zu verlassen, weil er glaubt, seine Mannschaft schieße immer erst Tore, wenn er weg sei. Einmal war er mit einer japanischen Freundin bei einem Heimspiel, sie konnte das alles nicht fassen: Er sitze also hier herum, für nichts – und gehe dann, damit Tore fielen? Kerr sagte: Vertrau mir! Sie gingen. Im Auto hörten sie Radio: TOOOOR für Celtic! Kerr: »Sie sah mich an, als wäre ich das größte Genie, das sie je getroffen hat!«
Wissen Sie, ich glaube, eine gewisse Sehnsucht nach Magie verlässt uns nie. Wir hätten einfach so gerne, dass etwas, was wir tun, die Welt beeinflusst, das Schmelzen eines Stückchens Blei am Jahresbeginn, das Anzünden einer Kerze, solche Dinge. Die Ereignisse sollen etwas mit uns zu tun haben. Zum Beispiel glaube ich seit eh und je: Wenn ich eine Münze auf der Straße liegen sehe, und ich hebe sie auf, dann ist mein finanzielles Wohlergehen für ein Jahr gesichert. Es hat bisher auch immer gestimmt. Warum sollte ich zweifeln?
Sicher gibt es viele, die darüber lächeln. Sie sind rational. Vernünftig. Wir Magiegläubigen können sie nur beneiden um ihren klaren Verstand. Andererseits muss man sagen: Wir haben die spannenderen Schulwege gehabt.