Als ich kürzlich nicht schlafen konnte, las ich ein wenig in den Protokollen des Gewerkschaftstages der Eisenbahner Deutschlands im Mai 1984 und stieß in einem Redebeitrag auf die Sätze: »Gehört es nicht genauso entschieden, wie wir es im letzten Antrag gesagt haben: Wir müssen klare Kante zeigen? Wir müssen sagen, was wir wollen. Wir müssen dem Arbeitgeber gegenübertreten und sagen, dass wir keine Lohneinbußen wollen.« Ja, dachte ich, was für eine Karriere der Begriff doch seitdem gemacht hat, der wohl damals zum ersten Mal benutzt wurde, jedenfalls ist dies der erste schriftliche Beleg: klare Kante. Als vor beinahe zwei Wochen Frau Merkel und Herr Schulz miteinander debattierten, sprachen beide davon, dass man »klare Kante« gegenüber dem türkischen Präsidenten zeigen müsse, klare Kante, klare Kante, fast hätte Schulz noch gesungen: Alle, die mit uns auf Kantenfahrt gehen, müssen Männer mit Bärten sein…
Kann eine Kante eigentlich überhaupt unklar sein?, dachte ich noch, bevor ich ruhig einschlief, das Merkelschulzgemurmel im Kopf. Eine Kante befindet sich dort, wo zwei Flächen zusammenstoßen; ein Würfel und ein Quader haben je zwölf Kanten, eine quadratische Pyramide hat acht, man fährt mit dem Finger daran entlang, und es ist immer völlig klar, wo die Kante ist und wo nicht. Aber nur Kante, das reicht irgendwie nicht, der verfettete Politsprech unserer Zeit funktioniert nur mit Adjektiven, und zur Kante gehört die Klarheit, bisweilen auch die Härte: Der Innenminister de Maizière hat mal gefordert, »harte Kante« gegen Hooligans zu »zeigen«. Genau: Die Kante, ob klar, ob hart, wird immer gezeigt, das ist wichtig! Nur Angela Merkel wurde in der Wirtschaftswoche zitiert, sie wolle eine klare Kante gegen- über der SPD »fahren«, obwohl ihre Politik im Grunde immer eher kugelförmig war und ist.
Ist es nicht interessant, dass der Trend zur klaren, harten Kante immer größer wird, je unübersichtlicher die Zeiten sind? Vernünftigerweise löst man heute politische Probleme im Gespräch, mit Diplomatie, Verhandlungen, Kompromissen. Aber geredet wird von den klaren, harten Kanten, jedenfalls im Wahlkampf. Hinterher verschwimmt alles wieder, wie immer. Übrigens ist keineswegs gesagt, dass die Leute mit der härtesten Kante eine Wahl gewinnen. Der Tagesspiegel schrieb vor nicht langer Zeit über den Wahlsieg des damals schon 73-jährigen Adenauers (CDU) gegen den stets sehr wütenden Schumacher (SPD) im Jahr 1949: »Ruhige Hand siegte gegen klare Kante.«
Überhaupt ist die klare Kante im Grunde ein Markenzeichen der SPD, sie gibt sich die Kante, wann immer es möglich ist. Der markige Otto Schily hat gerne von ihr gesprochen. Helmut Schmidt wird gerne als Prototyp des Klare-Kanten-Mannes gesehen, obwohl ich nirgendwo entdecken konnte, dass er den Ausdruck selbst benutzt hätte. Sigmar Gabriel twitterte mal: »Kühler Kopf und klare Kante gehören zusammen. Da bleibt Helmut Schmidt bis heute Vorbild.«
Wobei: Über den legendären Franz Müntefering, einst einer der Nachfolger von Helmut Schmidt als SPD-Fraktionsvorsitzender und Vorgänger von Gabriel und Schulz im Parteivorsitz, gibt es einen Film mit dem Titel Klare Kante Münte!, der sich auch auf eine Rede des Mannes 2008 im Münchner »Hofbräukeller« bezieht. Er forderte von seinen Leuten »heißes Herz und klare Kante« und fuhr fort, das rieche »sehr nach Schweiß und Anstrengung. Aber ich sage Ihnen, ich sage euch: Das ist besser, heißes Herz und klare Kante, als Hose voll. Das riecht auch nicht gut.«
Ja, wir lieben den Geruch von heißen Herzen, kühlen Köpfen, ruhigen Händen und klaren Kanten, nicht wahr? Und unseren guten Schlaf, den lieben wir auch sehr …
Illustration: Dirk Schmidt