Die, die uns bedrohen

Christian Lindner sagt, er habe die Skrupellosigkeit der AfD unterschätzt. Wie kann das heute noch passieren? Und was kann man gegen den politischen Brutalismus tun? 

Illustration: Dirk Schmidt

Was mich erschüttert hat: der Satz des FDP-Vorsitzenden Lindner, er habe »die Skrupellosigkeit der AfD im Umgang mit höchsten Staatsämtern unterschätzt«. Wenn doch eines nicht mehr passieren sollte, dann: dass man die Skrupellosigkeit von Rechtsradikalen unterschätzt.

Bruno, mein alter Freund, sagte, er habe beim Blättern in alten Magazinen Bilder aus jenen Zeiten gesehen, als Obama Präsident war – und sei niedergeschmettert gewesen von der Erkenntnis, wie sehr sich die Welt seitdem verändert habe. Auch Trump sei ja unterschätzt worden: Seriöseste Kommentatoren schrieben bis zur Wahl, es sei ein absurder Gedanke, der Mann könne Präsident werden.

Das ist nicht mal vier Jahre her.

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Trump hat seitdem ohne Rücksicht auf Recht und Gesetz, Moral und Anstand einen politischen Brutalismus etabliert, der keine Grenzen kennt und weltweit Schule macht. Das war möglich, weil man ihn verlachte und in seiner absoluten Rücksichtslosigkeit nicht ernst nahm. Aus seiner sprachlichen Verrohung ist eine Sittenlosigkeit der Tat geworden. Und es hat sich eine neue Normalität etabliert, die wir vor nicht langer Zeit für unmöglich gehalten hätten. Das war absehbar, und doch hat man es nicht sehen wollen.

Dazu gehört in Deutschland, dass ungezählte Politiker, Journalisten, Publizisten und deren Familien einer Flut ekelhaftester Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, ohne dass dies Konsequenzen für die Täter hätte. Das Büro des SPD-Abgeordneten ­Diaby in Halle ist beschossen worden, der Regierungspräsident Lübcke wurde ermordet – und man fasst einfach nicht, mit ­welcher Ruhe das Land zur Tagesordnung übergegangen ist, ohne zu begreifen, dass es für eine Demokratie Folgen hat, wenn ihre Exponenten um Leib und Leben fürchten müssen.

Gern heißt es an dieser Stelle, man könne unser Land nicht mit der Weimarer Republik vergleichen. Das ist ja richtig. Wir leben nicht in bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen wie Anfang der Dreißigerjahre, wir haben keine Massenarbeitslosigkeit, die AfD ist keine NSDAP, auf den Straßen stehen sich nicht bewaffnete Organisationen antidemokratischer Parteien gegenüber. Aber ist es, andererseits, so abwegig, die Prügeltruppen der SA zu vergleichen mit dem »Heer anonymer Höllenhunde, die vor nichts zurückschrecken und jederzeit von der Leine gelassen werden können« – wie die Zeit jene nannte, die im Internet Todeslisten über Lokalpolitiker und andere führen?

Die Verkommenheit schließt leider ein, dass neuerdings FDP-Politiker als Nazis beschimpft werden, auch solche, die selbst empört sind über das Verhalten ihrer Partei in Thüringen; sogar dem Frankfurter Kreisvorstand Michael Rubin, aus dessen Familie mehrere Mitglieder von den Nationalsozialisten ermordet wurden, passierte das. So lässt mancher sich hinabziehen in den Schmutz, statt zu verstehen: Es ist nicht damit getan, sich der Wut durch Schimpfereien zu entledigen, es reicht nicht, selbst nur Affekten zu folgen statt dem Kopf. Wer das tut, ist in die Falle gegangen.

Denn es geht um etwas anderes, zum Beispiel darum, sich nie und um keinen Preis auf das Niveau der Demokratiefeinde zu begeben – und dann um Konkretes, Dringendes, Praktisches: Wie gedenken wir, unsere Vertreter in den Rathäusern, unsere Feuerwehrleute, Sanitäter, Polizisten, Journalisten zu schützen? Wie kann man eine demokratische Debattenkultur bewahren, statt sie im Mist sozialer Medien verrotten zu lassen? Was kann jede und jeder Einzelne im Alltag dazu beitragen? Mit welchen Argumenten wollen wir jene Wähler zurückgewinnen, die den etablierten Parteien verloren gegangen sind? (Jedenfalls doch nicht, indem man sie als Nazis beschimpft . . ?) Das muss sich jeder fragen, dem an diesem Gemeinwesen gelegen ist.

Alles andere wäre eine Unterschätzung derer, die uns bedrohen.