Jungerbsen zählen

Gewusst? Kolumnen sind Präzisionsarbeit. Ihre Länge wird in einem komplizierten Verfahren bestimmt – wie man es von der Ur-Schweinshaxe kennt.

Interessierten Lesern, die diese Kolumne seit Jahrhunderten verfolgen, ist aufgefallen, dass der Text immer genau gleich lang ist, das heißt, eine Kolumne weicht im Umfang von der anderen in für das menschliche Auge praktisch nicht wahrnehmbarem Umfang ab. Wie ist das möglich?

Nun, man benötigt für diese Präzisionsarbeit eine Referenzgröße, ähnlich dem Urkilo (nach dem sich alle anderen Kilos in der Welt richten) oder der Ursekunde oder der Ur-Schweinshaxe. Das Urkilo besteht aus 90 Prozent Platin und 10 Prozent Iridium und wird in einem Tresor bei Paris aufbewahrt. Die Ursekunde ist, wie jeder weiß, exakt genau so lang wie ein Pulsschlag des Bahnstationsvorstehers von Bad Schwürbelbach – seit eh und je müssen die Uhren der Welt dem Blutrhythmus dieses Mannes sowie seiner Vor- und Nachfahren angeglichen werden.

Die Ur-Schweinshaxe existiert nur in der Erinnerung Brunos, meines alten Freundes, der sie vor Jahrzehnten in einem Wirtshaus in Südostbayern verzehrte, was zur Folge hatte, dass er einerseits alle weiteren Schweinshaxen an dieser Urhaxe misst, andererseits aber eben die Bezugsgröße nicht mehr im Konkreten vorweisen kann, weil er sie ja aufaß. Das maßstäbliche Schweinebein existiert nur noch in seinen Beschreibungen, in denen von einer Kruste die Rede ist, deren Krachen zwischen den Zähnen so gewaltig gewesen sei, dass die Menschen in den umliegenden Dörfern aus den Häusern gerannt seien, weil sie wähnten, der Himmel stürze ein. Da Brunos Schwärmereien von Haxe zu Haxe größer werden und so im Gegenzug ihre Glaubwürdigkeit abnimmt, gibt es mittlerweile Zweifel an der Urhaxen-Tauglichkeit des Referenzschenkels. Ähnlich ist es mit dem Urkilo: Mal heißt es in Berichten, es nehme zu, weil es verschmutze, dann wieder hört man, es verliere an Gewicht, weil es zu scharf geputzt werde. Jedenfalls ist man gerade dabei, zuverlässigere Größen zu schaffen, zwei je ein Kilo schwere Siliziumkugeln nämlich, an deren Herstellung in Braunschweig gearbeitet wird.

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Problem hier: Sobald die Kugeln fertig sind, müssen die in ihnen enthaltenen Atome gezählt werden, eine Aufgabe, nur vergleichbar der kürzlich in Angriff genommenen Zählung der Sandkörner in der Wüste Gobi oder dem sogenannten Erbsenzensus, mit dem die an einem Stichtag in ganz Deutschland vorhandenen tiefgekühlten Jungerbsen erfasst werden sollen, um sie mit der Zahl der unter allen deutschen Bahngleisen aufgeschütteten (ihrerseits aber auch noch nicht komplett erfassten) Schottersteine zu vergleichen. Denn die Atome der Braunschweiger Kugeln müssen nicht nur insgesamt gezählt, sondern auch einzeln gewogen, poliert, nummeriert und katalogisiert werden, bei geschätzt 2,5*1025 Atomen eine Tätigkeit, die beweist, welche Opfer der Präzisionswahn unseres Zeitalters verlangt. Die gesamte niedersächsische Bevölkerung inklusive des Trainerstabes von Hannover 96 und des Volkswagen-Vorstandes wird auf Jahrzehnte hinaus in ihrer Freizeit damit zu tun haben.

Wobei anzumerken ist, dass so etwas nicht in Heimarbeit erledigt werden kann – da landen oft dringend benötigte Atome in Chipstüten. Übrigens möchte sich, dies am Rande, dringend Herr Ferdinand Piëch bei den Behörden melden! Seit seiner Beteiligung an der letzten Atomzählung fehlen zwei Atome, Herr Piëch, und die Schreibweise Ihres Namens – na, nichts für ungut! – war das schon immer so?

Die für dieses Stück hier maßgebliche Urkolumne nun befindet sich in einem temperierten Keller 200 Meter unter meinem Büro, ich muss da jetzt runter, der Urkolumnenwächter vergleicht diesen Text mit dem Urstück. Ist er zu lang, kappt er ihn einfach am Ende, ohne Rücksicht darauf, ob noch eine herrlich witzige, äußerst geistreiche, ja, den Sinn dieses Textes überhaupt ausmachende Schlusspointe kom

Illustration: Dirk Schmidt