»Man hat sich gewöhnt, nicht wahr?«

Wir leben in einer Welt, in welcher der Verlust jeden menschlichen Anstands einen nicht daran hindert, der mächtigste Mensch der Welt zu werden, im Gegenteil. Unser Kolumnist fürchtet: Das wird nicht nur Folgen haben – sie sind längst schon bemerkbar. 

Hören Sie, bitte, ich erinnere mich noch gut an den Abend vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, an dem ich zu Bruno, meinem alten Freund, sagte, welch seltsames Gefühl es sei, zu wissen, dass man morgen früh vielleicht in einer anderen Welt aufwache.

Bruno nickte stumm.

Dann sind wir in einer anderen Welt aufgewacht. Heute leben wir in ihr. Aber was genau ist eigentlich anders?

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Leider werden wir das vermutlich schon bald in vielen Details sehr genau erfahren, aber etwas ganz Grundsätzliches wissen wir jetzt schon: Wir leben in einer Welt, in welcher der Verlust jeden menschlichen Anstands einen nicht daran hindert, der mächtigste Mensch der Welt zu werden. Sondern in der gerade diese Zurschaustellung der eigenen Niedertracht einem Menschen den Weg in dieses Amt sogar geebnet zu haben scheint.

Man muss nicht all die Widerwärtigkeiten wiederholen, die Donald Trump im Wahlkampf und danach von sich gegeben hat, es reicht vielleicht (wie Meryl Streep es kürzlich bei der Verleihung der Golden Globes in Los Angeles getan hat), in Erinnerung zu rufen, wie Mister Trump vor Publikum einen kranken und deshalb körperlich behinderten Journalisten nachäffte. Es habe ihr Herz gebrochen, als sie das gesehen habe, sagte Streep, »und ich kann es immer noch nicht aus meinem Kopf bekommen«.

Und genau darum geht es vielleicht ab dem heutigen Tage: dass man es weiterhin nicht aus dem Kopf bekommt – und auch nicht bekommen sollte. Denn ist es nicht eine der größten Gefahren, der wir uns in der erwähnten anderen Welt gegenübersehen, dass wir uns an die Schamlosigkeit, die Dreistigkeit, den Schmutz und die Lüge gewöhnen? Dass wir sie achselzuckend übergehen und für ein Zeichen der Zeit halten, weiter nichts?

Wir leben ja inzwischen mit vielem, das eigentlich unerträglich ist. Der sogenannte Shitstorm, den mancher Politiker und manche Politikerin nach vielleicht oft nicht besonders klugen und jedenfalls voreiligen Äußerungen über sich ergehen lassen muss, ist ein Ereignis, das uns noch vor gar nicht langer Zeit geradezu sprachlos vor Entsetzen machte. Heute ist das eben so, Alltag, kaum der Erwähnung wert. Die Tatsache, dass es im vergangenen Jahr fast tausend Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gab, und dass in manchen Teilen Deutschlands Rechtsradikale ganze Stadtteile unter ihre Fuchtel zu bekommen suchen: Man liest das auf hinteren Seiten. Und dass Mark Zuckerberg ein Menschenfreund zu sein behauptet, während sein Unternehmen sich schamlos dazu benutzen lässt, die Grundlagen unseres Zusammenlebens zu beseitigen – warum ist dagegen in vergangenen Jahren von keiner großen Partei etwas unternommen worden?

Man hat sich gewöhnt, nicht wahr? Die Enthemmung ist Alltag, der Enthemmteste ist jetzt an der Macht. Mag sein, das ist nun eine Reaktion auf eine Welt, die viele nicht verstehen und in der sie sich nicht verstanden fühlen, stattdessen bevormundet und übergangen, eine Welt, mit deren Unübersichtlichkeit sie sich nicht auseinandersetzen wollen oder können oder beides. Aus Angst wird Wut und rabiates Umsichschlagen. Das gibt es nicht nur in der Politik. So ist der Mensch, so wird er immer sein.

Es hat Zeiten gegeben, in denen die politischen Auseinandersetzungen vielleicht heftiger waren als heute. Man hat jedoch gewisse Grenzen nicht überschritten. Es gab Politiker, die waren im Amt, obwohl sie Lügner waren und Menschen beleidigt hatten. Nun ist einer US-Präsident, weil er ein Lügner und Beleidiger ist. Denn diejenigen, die ihn wählten, wollten einen Mann, der sagt: Ich bin so stark, mich scheren nicht mal die fundamentalsten menschlichen Grundsätze: dass ich ungestraft lügen und beleidigen kann, ist genau der Beweis meiner Stärke.

Und die wollt ihr, nicht wahr?

Das ist der Unterschied. Das macht die Differenz zu unserer Welt von gestern aus. Und an uns wird es sein, zu zeigen, ob wir uns mit den Prinzipien dieser neuen, anderen Welt abfinden wollen oder nicht.

Illustration: Dirk Schmidt