Seit geraumer Zeit fällt mir in unserer Stadt ein bedauerlicher Mangel an Bautätigkeit auf. In meiner Straße sind nur drei Häuser von Baugerüsten verhüllt, die anderen zwanzig lassen ihre nackten, mehr als hundert Jahre alten Fassadenfratzen erkennen. Verlasse ich das Viertel Richtung Innenstadt und wende mich nach rechts, dorthin, wo sich lange ein herrlicher Hochhaus-Umbau ereignete, bewege ich mich in einer nahezu baustellenfreien Zone. Auf der Linken hingegen erwartet mich Gewühle, es wird ein unterirdischer Bahnhof renoviert. Da sind wir beim Problem: unterirdisch! Dieses Gehacke, Gegrabe, Gebohre ereignet sich unsichtbar für den Bürger. Das ist schade. Gelegentlich wird geklagt, München sei verschandelt von Bauzäunen, Schlammgruben, Röhrenstapeln. Allein in diesem Sommer habe es 20 000 Baustellen gegeben, eine unfassbare Zahl. Man errichtet einen neuen Tunnel für die S-Bahn, wird einen neuen Konzertsaal schaffen und einen alten renovieren, plant weitere Tunnel und Brücken, werkelt an den Netzen für Fernkälte und -wärme, tauscht Trambahnschienen aus, ersetzt »Fahrbahnflächen«, muss den Viktualienmarkt erneuern, den Nockherberg auch. Gerade ist das Gärtnerplatztheater fertig, schon geht man an die Errichtung eines neuen Volkstheaters. Ja, und der Hauptbahnhof, der Hauptbahnhof …!
Ich sage: zu wenig. In Astana, der Hauptstadt Kasachstans, hat Norman Foster eine Pyramide in die Stadt gestellt, dazu die Khan Shatyr Shopping Mall in Form eines gigantischen Nomadenzeltes, in der (unter anderem!) ein Strand mit Importsand von den Malediven zu finden ist, auf dem sich Kasachenkörper aalen. Uns aber mutet man schmerzende Isarkiesel zu, so ist es doch: Man findet es der Mühe nicht wert, auch für uns einen schönen Sand herbeizuschaffen oder eine Pyramide aufzutürmen. Man denkt, wir hätten das nicht verdient. Stattdessen gibt es Tunnel, immer Tunnel. Sind wir Grottenolme, dass wir so viele Tunnel bräuchten?!
Aber darum geht es gar nicht. Es ist ja die Baustelle an sich, die das Leben lebenswert macht. Sie steht für Aufbruch, Zukunft, Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Zu Recht wirft man den Münchnern behagliches Verharren vor. Jede Provinzstadt baut sich mal ein schönes neues Rathaus, das Unsrige stammt aus uralten Zeiten. Selbst Würselen hat ein Spaßbad. Was haben wir? Eine Olympia-Schwimmhalle aus dem vergangenen Jahrtausend. Ein Volksbad, in dem es nicht mal ein Rutschenparadies gibt. Im Englischen Garten lümmeln die Leute auf dem Rasen, statt das Gelände wenigstens mal umzugraben.
Die Baustelle macht den Menschen das Leben unbehaglich. Sie verhindert, dass sie sich in der Gegenwart einrichten. Sie lässt uns im Gedanken leben: Wenn das erst einmal fertig ist, dann wird es schön. Aber jetzt müssen wir wühlen und uns ducken unter Kränen und durch Morast schlapfen. In Berlin haben sie einen Flughafen als Dauerbaustelle eingerichtet, damit die Menschen wissen: Es ist nie zu Ende, erst morgen wird Berlin fertig sein. Und morgen kommt nie, es bleibt immer: morgen.
Wir aber haben die Isar als Lagerplatz und Feierstätte mitten in der Stadt umgebaut, statt sie für Containerschiffe und Kreuzfahrtdampfer zugänglich zu machen, für die Schwimmbagger Nacht für Nacht die Fahrrinne vertiefen. Ja, auf unserem Fluss schwimmen Flöße, wie rückwärtsgewandt ist das denn?! Wo früher der Flughafen Riem war, haben wir Wohnungen gebaut und ein Messegelände, lasst uns alles abreißen und wieder durch einen Airport ersetzen, von dem nie ein Flugzeug startet.
20 000 Baustellen. Ist ja kein Wunder, dass einem hier immer so gemütlich zumute ist.
Illustration: Dirk Schmidt