Bahnfahren

Selbstverständlich ist es in Ordnung, radikale Ansichten über das Bahnfahren zu haben. Sie und ich und zirka achtzig Millionen weitere Mitbürger, wir sind schließlich Besitzer der Bahn, die im Augenblick noch zu hundert Prozent Staatseigentum ist. Als Besitzern steht uns selbst dann eine Meinung zu, wenn wir nicht restlos Bescheid wissen – denn mal ganz ehrlich: Wer blickt beim Lokführerstreik, bei der geplanten Teilprivatisierung, bei Regionalverbindungen, die von den Ländern bestellt oder auch nicht bestellt werden, bei Streckenstilllegungen, ja selbst beim Fahrplan und beim Tarif wirklich noch durch?

Klar ist nur eins: Bahnfahren geht uns alle an, selbst wenn wir die Bahn gar nicht benutzen. Es ist eine kollektive Aufgabe und ein Akt der kollektiven Vernunft. Weshalb man beim Bahnfahren auch so wahnsinnig vernünftige Leute trifft: die Oma in der gestärkten Bluse, die auf dem Weg zu ihren Enkeln ist und ihre Jacke auf einen mitgebrachten Kleiderbügel hängt; den ernsten jungen Mann vor dem Notebook, der schon bald eine Stütze der Gesellschaft sein wird; die christliche Jugendgruppe mit Gitarre, den wanderfreudigen Rentner und so fort…

Man kommt sich fast frivol vor, wenn man ohne Ticket in einen Zug steigt und spontan dieser verschworenen Vernunftgemeinschaft beitritt. Das hat was von Zocker-Mentalität, die beim Schaffner mit Preisaufschlag bezahlt werden muss – und man ist immer in Gefahr, von vernünftigen Menschen mit Reservierung verdrängt zu werden. Entdeckt man einen nicht reservierten Platz in einem Abteil, wird man von einer Gruppe »Frühbucher« wie ein böser Eindringling gemustert; in der ersten Klasse ist es so leise, dass man kein Wort mehr zu sagen wagt. Findet man schließlich Zuflucht im Speisewagen, wo einen das »Serviceteam gern erwartet«, enttäuscht man diese ewig freudige Erwartung durch tatsächliche, offenbar ziemlich lästige Anwesenheit. Und doch: Bahnfahren ist der einzige wirklich entspannende und ökologisch einwandfreie Weg, von A nach B zu kommen. Außerdem zeigt sich hier wunderbar das Erbe des alten Nationalstaats: Bahnstreiks und Verzweifelte, die tagelang auf Bahnhöfen festhingen, das war doch bisher die Sache von Pizzabäckern und welschen Chaoten. »Bei uns« konnte das nicht passieren – und das war gut so.

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Nur jetzt passiert es offenbar doch. Wie sehr dieses Gefühl ans Eingemachte geht, zeigen die aktuellen erbitterten Diskussionen. Als Bahnbesitzer reden wir mit gespaltener Zunge: Einerseits wollen wir Lokführer, die ihren jämmerlichen 31-Prozent-Egoismus mal bitte hintanstellen, ihr Pflichtgefühl wiederentdecken und einfach für die nationale Sache weiterfahren. Das Problem ist: So ähnlich haben auch schon die Nazis argumentiert. Na gut, sagen die Lokführer dazu, dann bleiben wir unkündbare Beamte, streiken nie und fahren notfalls sogar, ähem, jedenfalls wen ihr wollt und wohin ihr wollt (mit der düsteren Seite ihrer Geschichte sollte man der Bahn momentan auch nicht kommen). Aber nein, ganz so ist es dann doch nicht gemeint, dazu sind wir inzwischen Kapitalisten genug: Wenn sich die Verspätungen häufen, wenn wir als »Übergangsreisender« mal wieder stundenlang irgendwo festhängen und der »Zugbegleiter« ein frecher Hund ist, dann wollen wir, bitte schön, dass Köpfe rollen. In Ordnung, sagen die Lokführer dazu, aber dann muss eben auch der freie Markt – und hie und da ein kleiner Streik – entscheiden, was unsere Leistung wirklich wert ist.

Da stehen wir nun, am Bahnsteig der Entscheidung. Irgendwie soll alles ganz anders werden – aber ändern soll sich bitte schön nichts. Wer so verworren denkt, fällt dann eines Tages den natürlichen Kräften des Chaos anheim, und dann kommen die italienischen und französischen Verhältnisse automatisch auch zu uns. Die deutsche Bahn wird dann zwar weniger verlässlich und sicher auch weniger vernünftig sein, aber auch nicht mehr ganz so deutsch. Und das wäre ja irgendwie auch schon was.