Die Euphorie, die Daniel Kehlmanns Buch Die Vermessung der Welt bei Kritik und Publikum ausgelöst hat, ist nicht zuletzt ein Effekt der jüngsten deutschen Gegenwartsliteratur. Der Roman des 31-Jährigen, der die Biografien Alexander von Humboldts und Carl Friedrich Gauß’ ineinander verzahnt, nimmt den größtmöglichen Abstand ein zu den vorhersehbaren Büchern der meisten jungen Autoren, ihren immergleichen Abbildungen der unmittelbaren Lebenswelt. Dass das Personal einmal nicht um 1970, sondern um 1770 geboren ist; dass es nicht an Identitäts-, sondern an Berechnungskrisen leidet, wird als befreiend empfunden und bürgt beinahe schon für ein Mehr an literarischer Qualität. Endlich, so der Tenor der Leser und Kritiker, sei hier wieder einmal ein junger Schriftsteller am Werk, der sich zu anderem als dem Protokollieren der eigenen provinziellen Befindlichkeit imstande fühlt, der über eine selten gewordene Bandbreite des Interesses und Wissens verfügt.Die Lobeshymnen auf das seit Wochen die Bestsellerliste anführende Buch blenden jedoch einige Schwierigkeiten aus. Zuallererst die Frage nach der Darstellung von Wissenschaftsgeschichte. Der Roman inszeniert den altbekannten Widerstreit zwischen empirischer und theoretischer Erkenntnismethode als Gegenüberstellung zweier skurriler Forscherpersönlichkeiten; in zahlreichen Passagen besteht das Buch aus nichts anderem als einer Aneinanderreihung von biografischen Anekdoten. Man fragt sich bei der Lektüre immer wieder, was mit diesem Verfahren – jenseits der viel beschworenen »Komik« – eigentlich gewonnen ist. Wozu diese Umwandlung von Wissenschaftsgeschichte in Belletristik? Ein zweiter Einwand beträfe die Sprache Daniel Kehlmanns, die wiederkehrende Rede von der »Virtuosität« seines Stils. Ohne Zweifel durchzieht den Roman ein Sinn für lakonische Pointen. Aber das Prekäre der Sprache Kehlmanns besteht darin, dass sie diese Meisterschaft unaufhörlich ausstellt. Der Wille zum »gut Schreiben« ist dem Roman überdeutlich anzumerken. Kehlmann erliegt der Versuchung, sich wie der von ihm bewunderte Thomas Mann an seinem eigenen Tonfall zu berauschen. Es stellt sich die Frage, welcher Anteil an dem ungeheuren Erfolg des Romans tatsächlich seiner spezifischen literarischen Qualität zukommt und welcher der Position, die er in der aktuellen deutschsprachigen Literatur einnimmt. Kehlmanns Buch erschien auf dem Höhepunkt des Überdrusses an den kümmerlichen Ausläufern der Pop-Literatur, den auf Romanformat gedehnten Büchern der Zeit- schriftenkolumnisten oder der schematisch konstruierten Alltagsprosa der Literaturinstituts-Absolventen. Nur vor diesem Hintergrund kann ein gut gemachter Unterhaltungsroman wie Die Vermessung der Welt plötzlich als ein Epoche machendes Werk erscheinen, das die Erzählkunst auf lange Zeit unerreichte Höhen zurückführt. Daniel Kehlmann ist ein Platzhalter, der eine zunehmend als schmerzhaft empfundene Lücke innerhalb der deutschen Literatur zu füllen vermag: die Figur des literaturhistorisch gebildeten, handwerklich tadellosen jungen Schriftstellers, die man sämtlichen Bastarden der Zunft entgegenhalten kann. Kehlmann erzählt seine Geschichten in einer mit allen Wassern des Kanons gewaschenen Sprache – doch vielleicht markiert gerade diese Versiertheit ein Problem. Ist nicht ein Rest an Unverputztheit, an Risiko, an womöglich sogar provinzieller Subjektivität notwendig, um wahrhaft berührende und relevante Romane hervorzubringen? Wenn literarisch Schreiben heißt, immer wieder neue, noch unbekannte Kreuzungspunkte zu finden zwischen Eigenem und Überliefertem, zwischen Erfahrungen, Wahrnehmungen, Anschauungen und der literarischen Tradition, in die man sich als Schriftsteller einreiht: Dann ist das notorische Geschwätz der Alltagsprosa genauso weit entfernt von dem, worum es geht, wie die Souveränitätsgeste Daniel Kehlmanns.