Sie ist ganz die Alte geblieben. Vom ersten Jungstar-Hype, von Kinokassenerfolgen, Festivalauftritten, berühmten Kollegen und auch vom Leben in Hollywood hat sie sich nicht verbiegen lassen. Denn im Herzen ist die Schauspielerin Franka Potente das, was sie schon immer war: ein normales Kleinstadt-Mädchen aus Dülmen, dem zuerst an der Schauspielschule in München, dann in der Weltstadt Berlin und schließlich auch jenseits des großen Teichs erstaunliche Dinge widerfahren sind. Trotzdem hat sie ihre natürliche Art und ihre etwas vorlaute Schnauze nicht verloren, ist innerlich frei geblieben, auch den mächtigsten Produzenten die Meinung zu sagen – und überhaupt ganz anders zu sein, als alle es von ihr erwarten. Ja, sie hat die Gabe, das Publikum und die Öffentlichkeit zu überraschen. Jetzt zum Beispiel hat sie zum ersten Mal Regie geführt und den Schwarz-Weiß-Kurzfilm Der die Tollkirsche ausgräbt gedreht, der 1918 spielt und beinahe ein Stummfilm ist. Man könnte ihn als liebenswert exzentrisch bezeichnen.
So, und jetzt bitte mal ehrlich: Können Sie diese rührende Entwicklungsgeschichte glauben? Können Sie das noch lesen ohne das Gefühl, einer Pressemitteilung zu lauschen? Oder anders gefragt: Ist das Prinzip Potente, das wir hier kurz zusammengefasst haben und das derzeit wieder durch Interviews und Porträts geistert, am Ende vielleicht das, was es nun wirklich nicht sein darf, nämlich ein Fake? Dieser hochbrisanten Frage wollen wir heute nachgehen, weil wir – ja richtig – andere Probleme zurzeit nicht haben. Nehmen wir also an, Franka Potente spiele auch in jenen Momenten, in denen sie demonstrativ und ungeschminkt »sie selbst« ist, eine Rolle. Wie eigentlich jeder Mensch, speziell wenn Kameras auf ihn gerichtet sind oder ein Reporter dumme Fragen stellt. Sie spielt also seit Jahren das sogenannte Dülmen-Girl. Das Dülmen-Girl muss über die Frage, warum es sich zum Beispiel nie für den Playboy ausziehen würde, keine Sekunde lang nachdenken. »Nee, Leute, wirklich nicht, ich hab Familie in einer Kleinstadt«, sagt es. Na klar.
Wenn Sie Lola rennt oder Die Bourne Identität gesehen haben und der Meinung sind, Franka Potente sei eine gute Schauspielerin, dann sollten Sie sie live in der Rolle des Dülmen-Girls erleben. Sie ist perfekt. Sie ist so gut, dass einem angst und bange wird. Man schwankt zwischen Bewunderung und Beklemmung. Denn einerseits ist es ja absolut wahr, dass man als Star gerade im Augenblick seiner größten Erfolge auf dem Teppich bleiben muss, dass man Schutzmechanismen braucht, um überhaupt noch arbeiten und im Alltag funktionieren zu können. Dafür ist diese Rolle ideal. Andererseits aber zeigt sie eine derart protestantische Angst davor, Dinge wie Ruhm oder Geld zu genießen, einfach mal ein Leckt-mich-am-Arsch-Grinsen aufzusetzen und augenzwinkernd genau das Falsche zu tun, dass man sich schon wieder Sorgen macht. Mehr als zehn Jahre in dieser perfekten Rolle, das kann nicht gesund sein. Wirklich normale Menschen werden zwischendrin auch mal größenwahnsinnig oder tun Dinge aus kalter Berechnung. Das müsste man zugegeben können. Zumindest vor sich selbst.
Möglicherweise ist Franka Potente deshalb so gut in der Rolle ihres Lebens, weil sie tatsächlich fest daran glaubt, das Dülmen-Girl zu sein. Von Fake kann daher nicht die Rede sein – eher vielleicht von Fremdbestimmung. Kann sich ein Mensch in dem Bemühen, trotz seines Berühmtseins ein Stück Freiheit zu bewahren, in eine neue, selbst gewählte Unfreiheit hineintreiben lassen? Ganz bestimmt. Und Franka Potente – smart, wie sie ist – wird auf diese Gefahr sicher bald reagieren. Denn es gibt diesen Wendepunkt in vielen weiblichen Starbiografien in Deutschland: Da wird aus einem jungen, voll auf Natürlichkeit getrimmten »Mädchen« schlagartig eine liebenswert exzentrische, zunehmend esoterische Diva. Die dann mit zunehmendem Alter gar nicht mehr so liebenswert ist und schließlich total grantig und egoman. Und die sich im Herbst ihres Lebens dann alles zurückholt, was sich das nette und authentische Dülmen-Girl nie gönnen durfte.