Die Frage, die sich sofort aufdrängt, ist klar: Wo zum Teufel ist Nanni? Wie kann man zwei Unzertrennliche einfach so auseinander reißen? Nun ja, es muss sein, das ganze Heft steht im Dienst der Zwillingsforschung und erst in der Trennung kann man eineiige Zwillinge wirklich studieren. Zunächst aber zeigt ihr Fehlen eindrucksvoll, wie sehr man die beiden als Einheit wahrnimmt, selbst wenn man nie eine ihrer Geschichten gelesen hat: Wer Hanni sagt, muss auch Nanni sagen, sonst klafft plötzlich ein beunruhigendes Loch. Im Übrigen ist ihre gereimte Brutalkoppelung eine deutsche Erfindung: Im Original heißen Hanni und Nanni, die bekanntlich Engländerinnen sind und von einer Frau namens Enid Blyton erfunden wurden, Pat und Isabel – was zwar humaner klingt, aber auch weit weniger einprägsam.Hanni und Nanni sind keineswegs die einzigen Zwillinge in der Kinder- und Jugendbuchliteratur. Erich Kästners Doppeltes Lottchen, Laura Lee Hopes Bobbsey Twins-Reihe, dazu Filme wie Die Zwillinge vom Immenhof: Gerade unter den berühmtesten Figuren des Genres finden sich in erstaunlicher Häufung eineiige Zwillingspaare, und wenn man sich fragt, warum das so ist, muss man die Erzählweise der meisten Kinderbücher im Blick behalten. Fast immer sind die Hauptfiguren in eine feste Gemeinschaft eingebunden (ein Internat, ein Ferienlager, eine Freundesgruppe), deren Mitglieder als klar bestimmbare Typen erscheinen. Der gutmütige Dicke, der Streber mit der Brille, die eingebildete Zicke: Individualität vollzieht sich in diesen Geschichten nicht als differenzierte Entwicklung, sondern ist der Zuschreibung von zwei, drei Details zu verdanken. Der Rückgriff auf Zwillinge im Zentrum dieser Gemeinschaften hat seinen Grund genau darin, dass sie dieses Modell der einfachen Identifizierung unterlaufen und ein unerschöpfliches Reservoir von Verwechslungsstreichen, also von erzählbarer Handlung bereitstellen. Die unter Hausarrest stehende Hanni kann trotzdem in die Stadt gehen, weil sie sich als ihre Schwester ausgibt; im Doppelten Lottchen wiederum beruht die ganze Geschichte von der Wiederzusammenführung der Familie auf einem Rollentausch. Die äußerliche Übereinstimmung von Zwillingen, die so viele Abenteuer der Kinderliteratur erst möglich macht, ist in den Büchern aber stets mit einem zweiten Element verknüpft: der klaren Unterscheidbarkeit ihres Temperaments, ihres Charakters. In Hanni und Nanni wird gleich zu Anfang des ersten Bandes betont, dass jene die Impulsive ist, die sich »sehr schnell aufregt«, und diese die Vernünftige. Bei Kästner ist diese Grundverschiedenheit des Temperaments genauso deutlich markiert: hier die schlagfertige Luise, dort die gewissenhafte Lotte. Die auffällige Betonung der Wesensunterschiede bewahrt die Sphäre der Kinderliteratur vor der Thematisierung einer Krise. Denn Gleichheit und Verwechslung sind bei Hanni, Nanni und ihren Kolleginnen immer nur belustigende Sache des Äußeren, die durch übereinstimmende Kleidung noch vorangetrieben wird. Was ihre Charaktere angeht, sind die Differenzen jedoch so überdeutlich gezogen, dass keine irritierende Übertretung zu spüren ist.In der Literaturgeschichte verschwinden Zwillingspaare in dem Maße, in dem die Innenwelt der Figuren zum Gegenstand gemacht wird: Bereits in Romanen für junge Erwachsene kommen sie kaum mehr vor; im Kanon der Weltliteratur schließlich sind sie ganz verschwunden. Sobald die Identität eines Einzelnen als unsicheres Gebilde voller Spannungen zum Erzählgegenstand wird, erschiene das Auftauchen eines Zwillings wie eine überflüssige Komplikation. In der von Innenansichten unbeschwerten Welt der Kinderbücher hat die Verwechslungskomödie der Zwillinge dagegen ihren Platz – bis zu dem Morgen, an dem sich Hanni zum ersten Mal weigert, die gleichen Kleidungsstücke wie ihre Schwester anzuziehen.