In einer Kultur, die Neuigkeiten, Enthüllungen, Ergebnisse und Gerüchte in unaufhaltsamem Tempo um die Welt jagt, genießt eine Form des Wissens scheinbar besonderen Schutz: die Information, wie ein Werk der Fiktion, ein Buch oder ein Film, tatsächlich ausgeht. Niemand soll den Schluss kennen, der nicht bis zur letzten Seite gelesen hat, bis zum letzten Bild dabeigeblieben ist. Darin sind sich Verlage, Studios, Autoren, Filmemacher, Berichterstatter und (von ein paar schwarzen Schafen abgesehen) selbst Kritiker einig. Auch das Publikum will es so: Ein böswillig verratener Höhepunkt, eine unbedacht ausgeplauderte Auflösung töten die Spannung und zerstören das Vergnügen. Der Verrat des Endes gilt als gewaltsame Entwertung eines kostbaren Guts und wird im Englischen sogar als »Spoiler« (Verderber) bezeichnet. Deine Freunde schützen dich vor diesem Wissen. Nur deine Feinde würden es dir zuflüstern.
Dennoch wirkt der Aufwand, der getrieben wird, um den Schluss der siebenbändigen Harry-Potter-Saga bis zum morgigen Erstverkaufstag des letzten Buchs geheim zu halten, erstaunlich. Sicherlich: Ein Ende, auf das die Leser seit zehn Jahren warten, eine Spannung, die von bisher 325 Millionen verkauften Büchern geschürt wird, ist gewaltig. Aber eine Druckerei, die geschützt wird wie ein Hochsicherheitstrakt; eine Lektorin, die das Manuskript immer am Körper tragen muss; und ein ominöser Hacker namens »Gabriel«, der angeblich in die Computer des britischen Bloomsbury-Verlags eingedrungen ist und eine »Auflösung« ins Netz gestellt hat? Das alles klingt ein wenig danach, als seien die dürren Fakten, die Harry Potters finalen Kampf auf den letzten Seiten betreffen, der eigentliche Wert der Geschichte; als löse sich in dem Moment, in dem klar ist, wer sterben und wer überleben wird, der ganze Rest der Erzählung in nichts auf.
Ganz von der Hand zu weisen ist diese Befürchtung nicht. Die meisten Werke aus Kinocharts und Bestsellerlisten büßen, vom Ende her betrachtet, einen Großteil ihres Glanzes ein. Ist die im Grunde doch eher banale Frage »Wie geht’s aus?« erst einmal unwiderruflich geklärt, würde man die Mehrzahl freiwillig kein zweites Mal anschauen oder lesen. Das schwingt in den Vorsichtsmaßnahmen des Verlages mit – und auch in der Hoffnung der Harry-Potter-Hasser, dem Hype durch die vorzeitige Enthüllung des Schlusses zu schaden.
Es steckt aber noch mehr dahinter: Während starke Anfänge und spannungsgeladene Mittelteile noch vielen modernen Erzählern gelingen, ist ein wirklich überzeugender Schluss heute so schwer zu finden wie der Stein der Weisen. Zu viele brillante Einfälle wurden, von Homer über O. Henry bis Agatha Christie, bereits erprobt und verbraucht; und zu viele Leser und Zuschauer sind erschreckend geschult in den Finten der Dramaturgie und sehen jede Wendung meilenweit voraus. Leider Gottes zählt auch nicht die Überraschung allein: Einen Hammer-Schluss hat man zwar im Traum nicht kommen sehen, er fühlt sich aber trotzdem zwingend und natürlich an – als hätte es rückblickend in der Psyche der Figuren und ihrer wiedererkennbaren Menschlichkeit keine andere Lösung gegeben.
Viele moderne Autoren und Filmemacher nehmen diese Herausforderung gar nicht mehr an und bemühen dafür das Deckmäntelchen eines höheren Kunstanspruchs. Ein Genie wie Shakespeare, Erfinder des Alltime-Hammers Romeo und Julia, würde über solche Ausreden aber nur lachen. So bleibt es heute zumeist den Blockbuster-Schreibern und Bestsellerautoren überlassen, sich mit den unmöglichen Forderungen an das überzeugende Ende abzumühen: uns einerseits zu überraschen, wie wir noch nie überrascht worden sind, und uns anderseits das Gefühl zu vermitteln, dass die ewigen Gesetze des Liebens und Lebens dafür trotzdem nicht gebrochen wurden. Es geht um einen völlig neuen Blick auf eine Welt, die trotzdem bitte schön restlos vertraut sein muss. Wer das verspricht, und sei es nur implizit durch sieben dicke Harry-Potter-Bände, die auf nichts anderes hinauslaufen dürfen als auf einen Hammer-Schluss – dem schenken wir dann auch mehr Reichtum als der Queen von England.