Sommerinterview

Das Genre »Sommerinterview«, 1988 von der ZDF-Sendung Bonn direktbegründet und seitdem von etlichen Fernsehanstalten übernommen, ist an eine konkrete Erwartung gebunden: In der Zeit der Parlamentsferien, fernab der bekannten Institutionen des Parteienbetriebs, soll es zu einer anderen Darstellungsweise von Politik kommen. Die Hoffnung besteht darin, dass die Spitzenpolitiker, an ihren Urlaubsorten oder zumindest in privater Atmosphäre befragt, einmal auf ungezwungenere, weniger repräsentative Weise von den Dingen sprechen; mit den Sakkos und Krawatten sollen auch die Fesseln des Staatsmännischen für einen Moment abgelegt werden. Was dagegen zum Vorschein kommen möge, ist der »Mensch« hinter dem Politiker, mit seinen persönlichen Interessen und Vorlieben, dem in der Auszeit der Ferien wahrhaftigere Auskünfte zu entlocken sind als im gut geölten Diskursgetriebe des Bundestags. Wie es Peter Hahne, einer der beiden Moderatoren des »ZDF-Sommerinterviews«, formulierte: »In der Sommerpause sind die Politiker nicht mehr nur die cleveren Statement-Maschinen, die jeden Satz dreimal abwägen. Da redet man drauflos, zeigt auch mal Gefühl, verplaudert und verplappert sich.«
Mit welcher Sorgfalt dieses Unterfangen betrieben wird, lässt sich daran erkennen, dass die Choreografie der Gespräche bis ins letzte Detail festgelegt ist. Egal ob Angela Merkel vor einer Dorfkapelle in der Uckermark zu Wort kommt, Köhler am Berliner Gendarmenmarkt, Bütikofer in Heidelberg oder, wie im letzten Jahr, Schröder an der Müritz: Die Sommerinterviews folgen stets genau denselben Ritualen. Gesprächsablauf, Kameraperspektive und Kulissen stellen eine größtmögliche Differenz her zur gewöhnlichen Politikerbefragung in Innenräumen, im Eingangsbereich eines Parlamentsgebäudes oder vor den Stellwänden des Fernsehstudios. Beim Sommerinterview ist nicht allein der freie Himmel obligatorisch; es geht vielmehr um eine durchgehaltene Ästhetik der Aufnahmen, vor allem um das Augenmerk auf die Öffnung des Raums. Nicht zufällig weitet sich der Bildhintergrund fast immer zu einem Horizont, einem verschlungenen Flusslauf, einem See oder einem Tal.
Alles an dieser Perspektive richtet sich gegen das Statische und Geschlossene konventioneller Berichterstattung. Deshalb gehört es etwa im ZDF auch zum festen Ablauf der Gespräche, dass die ersten Fragen im Gehen gestellt werden. Wenn Reporter und Politiker sich am eigentlichen Gesprächsort eingefunden haben, ist dieser Platz stets von zahlreichen Menschen bevölkert, auch wenn ein solcher Auflauf, wie kürzlich im Merkel-Interview vor der Dorfkapelle, wie inszeniert wirkt. Warum aber diese sorgsam choreografierten Elemente? Das Umhergehen im Freien, der Horizont der Landschaft, die Anwesenheit von Passanten sollen allesamt denselben Eindruck von Welthaltigkeit verstärken, von weitestgehender Entfernung zum undurchlässigen Politikbetrieb. Das Sommerinterview zeigt den Politiker als Bestandteil des alltäglichen Lebens.
Bemerkenswert ist jedoch eines: dass all diese ästhetischen Bemühungen, ein Außerhalb des politischen Diskurses zu schaffen, bereits mit der zweiten, dritten Frage in sich zusammenbrechen. Denn nach der Einstiegsbemerkung über die Bedeutung des ausgewählten Ortes für den Politiker wird das Gespräch unverzüglich zu dem bekannten Frage-und-Antwort-Spiel, in jenen immer gleichen Jargon der Politik, den man einen Moment später schon wieder vergessen hat. Letztendlich ist das Sommerinterview nicht die Antithese zum Betrieb, als die es sich präsentiert, sondern dessen konsequente Fortführung in der Sommerpause, die Möglichkeit der Fernsehredaktionen, auch in den Parlamentsferien über die eingespielten Themen zu berichten. Der Fokus auf dem scheinbar Privaten und Grundsätzlichen, auf dem Erheischen einer nicht autorisierten Information ist womöglich lediglich ein Kunstgriff, um den Mangel an Anlass und Aktualität zu überdecken. Peter Hahne weiß es so gut wie wir: Die cleveren Statement-Maschinen funktionieren auch im Sommer reibungslos.