Als die Warnung bei mir ankam, war das Virus längst da. In der Familie wüteten die Symptome, nur ich selbst fühlte mich topfit und schwelgte im Hochgefühl meiner tollen Abwehrkräfte. Dann las ich, was der Virenforscher auf www.heute.de zu sagen hatte, und Wort für Wort sank meine Zuversicht: Noro-Erreger. Eine Million Fälle. Keine Medikamente, keine Impfung. Zehn bis fünfzig Stunden bis zum Ausbruch. Kranke isolieren, alles desinfizieren, alles in die Kochwäsche. Wenn das wahr war – und ich hatte keinen Zweifel daran –, dann war der Kampf schon lange verloren. Ich legte mich ins Bett wie der alte Mann, der beim Untergang der Titanic als Einziger seine Würde bewahrt hatte, und machte das Licht aus. In der Nacht ging es los.
Über Wesen und Wirken der Viren gibt es wenig Neues zu berichten. Auch mein Noro-Virus fühlte sich am Ende nicht anders an als all seine Kollegen zuvor – eher war es ein schwächliches Exemplar, das mich nur bis halb zwei auf Trab hielt. Neu erscheint dagegen die Fülle der Informationen, die ein Virus inzwischen begleiten.
Ich sah Bilder und Videos meines Peinigers. Ich erfuhr, dass er (oder einer seiner nahen Verwandten) gerade auch auf der Queen Elizabeth 2 mitfährt und dort bereits jeden fünften Passagier befallen hat, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh, nicht auf einer Kreuzfahrt zu sein. Später klagte ich über starke Kopfschmerzen und wurde eine Zeit lang als Simulant betrachtet – bis der nächste Bericht klarstellte, dass dies eine typische Noro-Spätfolge war. Und noch heute spüre ich leichtes Unwohlsein, wenn ich an die Nachricht denke, dass man sich ohne Weiteres zweimal hintereinander anstecken kann.
Es ist, als hätten wir einen neuen Anti-Viren-Informationskanal eröffnet, der live und auf allen Medien vom Treiben unserer unsichtbaren und gefährlichen Feinde berichtet: Jeder Ausbruch eine Schlagzeile, jeder verdächtige Hühnerstall eine Meldung, jeder tote Schwan ein Bild in den Hauptnachrichten. Virologen als Helden und Medienstars; Infokästen mit Handlungsanweisungen für das eigene Leben. Viele Beobachter halten das für übertrieben, für Panikmache, für ein weiteres Versagen unserer hohldrehenden, alles verschlingenden Medienmaschinerie. Sie glauben, der Mythos von der unsichtbaren, schleichenden Bedrohung sei am Ende meist schlimmer als die Gefahr selbst. Ich glaube das nicht. Ich liebe Virenberichte.
Wenn man so will, ist das Virus ja selbst Information. Ein Datenstrang. Ein gefährliches Programm. Es lebt nicht wirklich. In seiner Winzigkeit kann es allein nichts ausrichten. Es braucht eine Körperzelle, die es aufnimmt, seinen Code mit ihrem eigenen verwechselt und anfängt, gefährliche Dinge zu tun – vor allem neue Viren zu produzieren. Die Ausweitung auf den Begriff des Computervirus ist treffend und sogar erhellend. Sie zeigt: Der Krieg gegen Viren kann nur ein Informationskrieg sein. Er wird in Echtzeit entschieden werden. Entweder ist das Virus zuerst da – oder die Handlungsanweisung der Virenjäger: Nicht öffnen. Nicht essen. Besser Hände waschen. Sofort zum Arzt gehen. Diese Nachricht duldet keinen Aufschub. Als schwerstes Versagen während der SARS-Epidemie gilt heute, dass die chinesischen Behörden ihre Informationen nicht gleich mit der Welt geteilt haben.
Am Ende wird es darauf ankommen, wer seine Informationen schneller und wirkungsvoller verbreiten kann – der Mensch oder das Virus. Viren bauen ständig Fehler in ihre Daten ein, das macht sie so unberechenbar. So könnte eines Tages ein neues Supervirus entstehen, eine Pandemie. Medien bauen auch gern Fehler in ihre Berichte ein. Oder zu viel Panik, oder zu wenig. Wir üben noch. Aber sollte die Seuche aller Seuchen eines Tages wirklich ausbrechen, dann wird eine schnelle Schlagzeile, ein präziser Fernsehbericht, eine klare Webseite die einzige Rettung sein. Wenn überhaupt.