Wachsfigur

Unter den Tausenden Doppelgängern, die von jedem Prominenten täglich zirkulieren, in der Masse von Fotos, Filmen, Livestreams fällt die Wachsfigur nicht mehr ins Gewicht. Sie ist ein Relikt der Jahrmärkte und fahrenden Gaukler, aus einer Zeit, in der es noch keine einfacheren und wendigeren Abbildungstechniken gab.

Im Jahr 1835, als sich das Kabinett von Marie Tussaud nach Jahrzehnten des Umhertingelns dauerhaft in London niederließ, stand Daguerre kurz vor der Realisierung der ersten Fotografien. Der Anfang der stationären Wachsfigurenkabinette war, was ihren Status als maßgebliches Reproduktionsverfahren betrifft, auch schon ihr Ende. Umso mehr erstaunt es, welche Aufmerksamkeit das letzte Woche in Berlin eröffnete Wachsfigurenkabinett gerade erhält. Der Besuch Klaus Wowereits bei Madame Tussaud, das Foto des echten Bürgermeisters, der um seine Nachbildung herumtänzelt, hat es auf die Titelseiten der Zeitungen gebracht. Und die Zerstörung der Hitler-Figur durch einen Besucher, nur zehn Minuten nach der Ausstellungseröffnung, ist bis heute ein Thema in den internationalen Medien.

Woran liegt es, dass eine längst überkommene Darstellungsweise historischer und aktueller Berühmtheiten solche Effekte hervorruft? Warum inszeniert ein Spitzenpolitiker, dessen Gesicht in Wahlkampfzeiten alle paar Meter von Plakaten herunterblickt, eine ausgedehnte Show zur Feier seiner Verdoppelung? Und woher rührt die erhitzte Allianz aus Politikern und Boulevardzeitungen gegen den wächsernen Hitler, die schließlich einen fast vorhersehbaren Bildersturm verursacht hat?

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Von den Gegnern wurde immer wieder angemahnt, dass die Aufstellung einer Hitler-Figur im reinen Unterhaltungszusammenhang geschmacklos sei und die Gräuel des Nationalsozialismus verharmlose. Doch müsste man mit der gleichen Logik nicht auch jede Fernsehparodie aus dem Programm nehmen? Die Physiognomie Hitlers ist allgegenwärtig, und das keineswegs nur im aufklärerischen Sinn. Doch allein als Wachsfigur beschwört ihre Präsenz noch einen Skandal herauf.

Es scheint fast, als würden in der anhaltenden Faszination und Bedrohlichkeit der Figuren noch Spuren eines alten Erschreckens nachwirken. In ihrer Frühzeit ging von den Kabinetten vor allem aus zwei Gründen besonderer Schauder aus. Zum einen war Madame Tussaud’s Kabinett nach der Französischen Revolution deutlich von der Sphäre des Todes geprägt.

Den Mittelpunkt der Sammlung bildeten die abgetrennten Häupter von Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, und Tussaud ließ die (nie bestätigte) Geschichte verbreiten, die Gussformen seien direkt nach der Hinrichtung von den echten Köpfen genommen worden. 1857 erwarb die Londoner Ausstellung sogar das Fallbeil, mit dem das Königspaar geköpft worden war, vom Enkel des Scharfrichters.

Verstärkt wurde diese irritierende Lebensechtheit der Figuren von jeher durch das Material, aus dem sie geformt werden. Wachs ähnelt der menschlichen Haut mehr als jeder andere Stoff; seine weiche Beschaffenheit macht es zudem möglich, dass die Abdrücke direkt vom Gesicht genommen werden können. Manche Figuren in den Kabinetten ähneln ihren Vorbildern also nicht nur, sondern standen einmal in unmittelbarem Kontakt mit ihnen.

Alle diese Eigenschaften haben dafür gesorgt, dass im Wachsfigurenkabinett die Fantasie der heimlichen Belebung immer schon im Raum steht. Ein winziger Impuls, eine falsche Bewegung – und schon öffnen die Figuren nachts ihre Augen, kommen untereinander ins Gespräch oder fallen über einen Wärter her.

Und vielleicht muss der Skandal um die Hitler-Figur in Berlin gerade vor diesem Hintergrund verstanden werden. Es geht nicht um das viel beschworene politische Unbehagen, sondern um ein ästhetisches: Das zu Echte der Wachsfigur bringt noch einmal kollektive Ängste und Distanzprobleme zurück, die man im routinierten Kontakt mit den gängigen Medien längst zu kontrollieren vermag.

Foto: afp