Die Gewissenfrage

»In der Silvesternacht hat die Freundin meines besten Freundes mit einem gemeinsamen Bekannten herumgeknutscht, was meinen Freund sehr erschütterte. Als dieser Bekannte mich nun anlässlich seines Wegzugs zu einem Abschiedsessen einlud, habe ich abgesagt, mit der Begründung, dass ich sein Verhalten an Silvester nicht richtig fand; auch wenn zu solchen Aktionen immer zwei gehören. Nun zweifle ich, ob ich zu moralisierend und selbstgerecht gehandelt habe. Andererseits wollte ich Position beziehen. Was meinen Sie dazu?« HANS-JOACHIM, HAMBURG

Seitensprünge sind ein weites Feld. Glücklicherweise muss man es nicht abschließend beackern, um etwas zu Ihrem Verhalten zu sagen. Denn schon das ist schwer genug. Einerseits begrüße ich, dass Sie Stellung gemäß Ihren moralischen Grundsätzen beziehen. Sie können sich noch dazu auf Aristoteles berufen, der die Taten eines Menschen dessen Tugenden zuordnet, die wiederum den Charakter bilden. Und es ist nur konsequent, den Umgang mit einem Menschen abzulehnen, dessen Charakter man missbilligt.Dass mich Ihre Aktion am Ende dennoch nicht so richtig überzeugt, liegt am frühen Tod einer jungen Frau: Effi Briest.

Die Heldin des gleichnamigen Romans hatte sich, mit 17 schon verheiratet, im Laufe der Ehe auf eine Affäre eingelassen. Als ihr Mann Jahre später davon erfährt, verstößt er sie sofort. Dem schließen sich – für hier interessant – ihre Eltern an, »weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen«. Allerdings widerrufen die Eltern dies später wieder in einem Telegramm: »Effi, komm«.

Theodor Fontane ließ die Beweggründe für den Seitensprung im Unklaren und damit auch die moralische Bewertung Effis; im Gegensatz zur fremd anmutenden, harten Konsequenz ihrer Eltern. Und da würde ich gern einhaken: Ohne nähere Kenntnis der Umstände fällt eine Beurteilung des aus dem Ruder gelaufenen Silvesterflirts ohnehin schwer. Die Einladung aus Solidarität mit dem Gehörnten abzulehnen, leuchtet mir noch ein. Weniger hingegen, bei dieser Gelegenheit auch noch den moralischen Stab über den Bekannten zu brechen. Dafür scheint mir das Ganze, in den Worten des alten Briest, denn doch »ein zu weites Feld«.

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Illustration: Jens Bonnke