Die Gewissensfrage

Darf man seine Wartenummer im Finanzamt weiter verschenken, wenn man vorzeitig weg muss oder ist das unfair gegenüber den anderen Wartenden?

»Neulich war ich im Finanzamt und zog, wie üblich, eine Wartenummer. Ich hatte die Wartezeit aber unterschätzt und musste weg zu einem anderen Termin. Sollte ich in diesem Fall die gezogene Nummer jemandem schenken, der sich darüber freut – während die anderen sich ärgern, die Nummer nicht bekommen zu haben? Oder sollte ich die gerechte Reihenfolge wahren und meine Nummer verfallen lassen, auch wenn dann alle warten müssen, solange meine Nummer über dem Schalter aufleuchtet?« Gerda M., Frankfurt

Ihre Betrachtungsweise ist utilitaristisch, sie argumentieren also nach der Nützlichkeitsethik. Demnach überlegen Sie, welche der beiden Möglichkeiten – die Nummer jemandem zu geben, der dann vorgezogen wird, oder sie verfallen zu lassen – allen Beteiligten mehr Nutzen bringt. Dabei stellen Sie auf das Glück des einen Beschenkten ab, im Vergleich zum Ärger, also dem Unglück der anderen, und versuchen eine Summe zu bilden. Korrekterweise müssten Sie zusätzlich – wenn Sie Glück oder Unglück aller Beteiligten erfassen wollen – auch Ihr Befinden berücksichtigen: Vielleicht fühlen Sie sich gut, wenn Sie jemandem mit der Nummer eine Freude machen können, oder freuen sich für ihn. Das alles zu verrechnen scheint schon schwierig, und vieles davon bleibt reine Vermutung. Noch schwieriger wird es jedoch, wenn Sie auch die Zeit in die Überlegung einbeziehen wollen. Wie groß sollte man den Nutzen ansetzen, den alle Wartenden haben, wenn man die paar Sekunden einspart, die bis zum Aufruf der nächsten Nummer vergehen, weil Sie sich nicht gemeldet haben? Und wie sieht es mit dem aus, was Sie »die gerechte Reihenfolge wahren« nennen? Manche moderne Utilitaristen wollen auch Gerechtigkeitsaspekte bei der Bemessung der Glückssumme berücksichtigen, weil ein Verstoß gegen das Gerechtigkeitsempfinden bei den meisten Menschen Empörung hervorrufe. Nur wie viel?

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Dass sich auf all das eindeutige Antworten finden lassen, bezweifle ich und würde deshalb lieber woanders ansetzen: bei der Frage, was eine Wartenummer eigentlich ist. Wenn man sie verschenkt, behandelt man sie wie ein Wertpapier, das eine Eintrittsberechtigung darstellt. Meiner Ansicht nach ist sie das aber nicht, sondern lediglich eine Merk- und Ordnungshilfe für das Hauptprinzip: der Reihe nach – dem Eintreffen entsprechend – aufgerufen zu werden. Mit anderen Worten: Die Wartenummer begründet keinen Platzanspruch, sondern dient nur seinem Nachweis, der Jurist würde sagen, sie ist nicht konstitutiv, sondern deklaratorisch. An seinem wirklichen Warteplatz gemäß der »gerechten Reihenfolge« ändert sich somit für den, der die Nummer geschenkt bekommt, nichts, es sieht nur anders aus. Die Nummer verfallen zu lassen ist also gerechter, das Weitergeben willkürlich. Nichtsdestotrotz hat es den Charme, den jede nette Geste hat.



Eine Auswahl von Originaltexten zum Utilitarismus findet sich bei:

Otfried Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, Francke Verlag, Tübingen, 1992

Zu Entwicklungen des Utilitarismus:
Siehe das Kapitel „Utitlitarismus" in: Herlinde Pauer-Studer, Einführung in die Ethik, Facultas Verlag, Wien, 2003, S. 31ff.

Sowie:
Detlef Horster, Ethik, Philipp Reclam, Stuttgart, 2009, S. 40ff. Dieter Birnbacher, Utitlitarismus / Ethischer Egoismus, in: Marcus Düwell / Christoph Hübenthal / Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Verlag J.B. Metzler Stuttgart 2002, S. 95ff.

Lesenswert ist auch:
Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, Reclam, Stuttgart, 2003

Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, Oldenbourg Wissenschaftsverlag München 2. Auflage 1995

Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Harvard University Press 1977, deutsch: Bürgerrechte ernst genommen, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1984, S. 382ff.

Amartya Sen / Ronald Dworkin (Hrsg.) Utilitarianism and Beyond, Cambridge University Press 1982

Illustration: Marc Herold