Reisen ist politisch

Polen kehrt sich ab von europäischen Werten des Miteinanders: Ist es trotzdem vertretbar, das Land als Tourist zu besuchen? Die Gewissensfrage.

»Für Herbst planen wir eine Reise in die Kulturhauptstadt 2016, nach Breslau. Nach dem Wahlausgang und den immer unerträglicher werdenden Aussagen der polnischen Politiker stellen wir diese Reise nun aber in Frage. Ich bin ehrenamtlich für Flüchtlinge tätig, Hetze gegen Flüchtlinge verletzt mich persönlich sehr. Was raten Sie uns?« Susanne M., Nürnberg

Trotz aller ihrer Schwächen halte ich die viel gescholtene Europäische Union für ein mittelgroßes Wunder. Staaten, die sich bis vor wenigen Jahrzehnten manchmal jahrhundertelang in einem Ausmaß bekriegt haben, für das »blutigst« schon fast einen Euphemismus darstellt, deren Verhältnis man zum Teil mit dem Begriff »Erbfeindschaft« verbal zementiert hatte, in denen es lange Zeit keine Generation gab, die nicht eifrig bereit war, aufeinander zu schießen, verbinden sich trotz oder gerade wegen dieser Geschichte freundschaftlich miteinander in einer Weise und Intensität, die kriegerische Auseinandersetzungen undenkbar machen. Nicht zuletzt dafür hat die EU den Friedensnobelpreis erhalten.

Die Europäischen Kulturhauptstädte sind Teil dieses Programms. Sie sollen das kulturelle Leben dieser Städte fördern, daneben aber auch die gemeinsame Geschichte und das gemeinsame Erbe Europas aufzeigen. Damit stärken sie einige der Säulen, auf denen das verbundene Europa ruht: die gemeinsame Kultur und individuelle Kontakte, das kulturelle und persönliche Kennenlernen über die alten Grenzen hinweg, eine Art Graswurzelbewegung oder besser »Grasverwurzelung« des europäischen Gedankens.

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Gerade dann, wenn manche Länder durch Stimmungswandel oder Wahlergebnisse drohen, sich von Europa abzuwenden oder gemeinsame Werte aus dem Blick zu verlieren, gilt es, diese Säulen der Verbundenheit zu festigen. Ein Land ist nicht identisch mit seiner Regierungspartei. Es geht darum, direkt zu erleben, dass sich – jenseits aller technischer Fragen der europäischen Politik, über die man sehr wohl streiten kann – die Menschen und ihre Kultur viel näher sind, als manche sie glauben lassen möchten. Deshalb sollten Sie Ihren Besuch nicht absagen, auch wenn ich diesen Reflex persönlich sehr gut nachvollziehen kann.

Quellen:Europäische KommissionCreative EuropeEuropean Capitals of CulturesOnline abrufbar hierEuropean CommissionEuropean Capitals of CulturesFact SheetOnline abrufbar hier

Illustration: Serge Bloch