Spürnase Mark Brownstein riecht an »Buddhas Hand«, einer asiatischen Zitronatzitrone - Rohstoff für Zitronat, Likör und Konfitüre.
Ich gebe es zu: Ich habe einen »sweet tooth«, einen »süßen Zahn«, wie man bei uns in Kalifornien sagt. Hat wahrscheinlich mit meiner Kindheit zu tun. Ich kann mich an keine Mahlzeit erinnern, nach der meine Mutter nicht mindestens Apfelkuchen, Eiscreme oder ein paar Cookies auftischte. Amerika ist ja das Land der Kekse und Kuchen. Warum? Weil seit Jahrhunderten deutsche, französische, italienische Bäcker und Hausfrauen ihre Rezepte mitbrachten, als sie einwanderten. So wie meine Vorfahren, jüdische Osteuropäer. Davor war Amerika ein Land ohne Nachtisch. In den indianischen Kulturen wurde Süßem wenig Bedeutung beigemessen. Es gab Beeren, Nüsse und vielleicht Honig.
Heute sind die USA eine ernstzunehmende Größe, was Desserts angeht, einige der bedeutendsten Patissiers arbeiten in den USA. Auch abseits der Sterne-Küche kann man hier momentan sehr gute Kuchen und ausgezeichnetes Gebäck finden, denn das ganze Land wird gerade von einem Home-made-Trend erfasst: Alles wird plötzlich selbst gemacht, in jedem Coffeeshop, in jedem Restaurant; vor allem an der Westküste, wo sich ohnehin nahezu alle kulinarischen Einflüsse der Welt treffen.
Mich als Foodhunter interessieren jedoch andere Dinge. Ich suche nach unbekannten Zutaten, nach geheimen Rezepten, ungewöhnlichen Kombinationen, nicht nach fertigen Produkten, die man im Restaurant oder im Laden bekommt. Dafür reise ich um die ganze Welt, am liebsten nach Asien, denn ob Sie’s glauben oder nicht: Nirgends gibt es spannendere Gerichte, vor allem Süßspeisen.
Biologisch ist das Dessert nicht notwendig. Man kann auch ohne Süßes überleben, und doch scheint die Lust darauf universell zu sein. Schon mal gesehen, was ein Bär alles anstellt, um an Honig zu kommen? Süßes stimuliert unser Belohnungszentrum im Gehirn, macht glücklich. Schon die Römer hatten eine Art Panforte, einen Kuchen aus Zucker, Nüssen und getrockneten Früchten; sehr haltbar, süß und nahrhaft; wir essen es heute als Delikatesse, damals war es Survival-Food für strapaziöse Märsche.
Die Geschichte des Desserts, wie wir sie kennen, fällt zusammen mit der Entwicklung der modernen Zivilisation. Die Inkas kannten zwar schon Schokolade, aßen sie allerdings nicht als Dessert, sondern verwendeten sie als Heilmittel oder Aphrodisiakum. Das Zeitalter der Praline und des Konfekts begann erst, als die Schokolade mit den Konquistadoren nach Europa kam, also im 16. Jahrhundert. Manchmal entstehen Dinge auch unabhängig voneinander an völlig verschiedenen Orten: Die Cantuccini der Toskana unterscheiden sich kaum vom Mandelbrot, das man in jüdischen Bäckereien bekommt.
Der amerikanische Publizist Michael Krondl, der die Kulturgeschichte des Essens erforscht, hat sechs Dessert-Supermächte ausgemacht: Indien, der Nahe Osten, Italien, die USA, Frankreich und Österreich. Wer will ihm widersprechen? All die Süßspeisen in der Türkei: Türkischer Honig, kandierte Früchte, Baklava. In Italien werden wunderbare Dinge mit Schokolade, mit Nüssen, mit Eis gemacht (wenn Sie zu den Leuten nach Hause gehen, gibt es interessanterweise aber meist nur geschnittenes Obst als Nachtisch). Bin ich in Österreich, esse ich grundsätzlich wenig, damit ich bei den Süßspeisen umso mehr zuschlagen kann: am liebsten bei schweren Mehlspeisen wie Strudel oder Mohnkuchen. Und dann Frankreich mit seinen Trüffelpralinen, dem Brandteiggebäck, den Macarons! In der Bretagne gibt es »Kouign-amann«, einen gerollten Schichtkuchen aus Butter, Zucker und Mehl, der zum Leckersten gehört, was ich je gegessen habe. Auch Indien hat einiges zu bieten: Desserts auf Palmzuckersirup-Basis und Halva, eine Süßspeise aus Grieß. In manchen Gegenden habe ich köstliche Halva mit Roten Beten oder Karotten gegessen. Vieles aus Indien mag ich jedoch nicht zu sehr: zu süß.
»Der Reichtum an ungewöhnlichen Zutaten aus Asien ist schier unerschöpflich.«
Auf Straßenmärkten wie diesem im chinesischen Kanton sucht Brownstein nach exotischen Gewürzen und Früchten.
Eine Supermacht hat Krondl jedoch übersehen: Südostasien – meine persönliche Supersupermacht. Allein in Hongkong gibt es Hunderte süßer Suppen, kalte und warme; sie werden veredelt mit der apfelartigen Jujube-Frucht (Rote Dattel) oder der chinesischen Wolfsbeere »Goji«. Einer meiner Favoriten sind Tangyuan – süße Knödel aus Klebreismehl mit einer Füllung aus schwarzem Sesam, die in Ingwerbrühe gegart werden – lassen Sie das einen Österreicher probieren, und er wird sehr neidisch werden.
Die besten Süßspeisen Südostasiens sind schwer zu finden, manche gibt es nur zu bestimmten Jahreszeiten wie zum Beispiel wunderbare Kreationen aus jungem grünen Reis, den man zusammen mit Zucker, Kokosflocken, Kokoscreme, Sesam und etwas Salz zu einer dicken Masse einkocht. Eine Variation davon habe ich mal in Bangkok gekostet, aber nie wieder gefunden: eine kleine Banane, ummantelt von eben jener grünen Reispaste, die in ein Bananenblatt gewickelt war, über Holzkohle gegrillt und mit mächtiger Kokoscreme garniert. Man kann es nachkochen, aber es wird nie so schmecken wie bei der thailändischen Großmutter, die man zufällig kennengelernt hat. Rezepte wie diese sind Gold für europäische Küchenchefs, die nach einem ausgefallenen asiatischen Dessert für ihr Menü suchen. Oder nach exotischen Zutaten. Dem französischen Star-Konditor Pierre Hermé, den Kritiker als »Paganini des Desserts« feiern, habe ich mal einen besonderen Lindenblütenhonig von den Philippinen mitgebracht, mit dem er dann seine Schokoladentrüffeln veredelte.
Meine neueste Entdeckung sind Osmanthusblüten, die normalerweise nur in chinesischen Tees Verwendung finden. Man lässt sie in Wasser mit etwas Salz und den Früchten des Owenia-Baums (Emu-Apfel) fermentieren. Zerstößt man diese Masse dann mit etwas Zucker, erhält man ein Granulat, dessen Geschmack wie nichts ist, was man kennt: blumig-fruchtig, aber auch süßsauer. Ich experimentiere gerade damit, um herauszubekommen, was man damit alles anstellen kann. Ich habe es karamellisiert, in Joghurt gemischt, in einen Kuchenteig. Ein paar dieser Versuche habe ich toskanischen Küchenchefs vorgesetzt. Sie waren total verdattert, weil sie den Geschmack nicht einordnen konnten. Genauso soll es sein.
Der Reichtum an ungewöhnlichen Zutaten aus Asien ist schier unerschöpflich: Neulich bin ich auf einen Sirup gestoßen, der aus reifen thailändischen Ma-Tum-Früchten hergestellt war, einer Art Ur-Orange mit harter Schale und kaum Fruchtfleisch. Oder Indonesien: Dort gibt es dunklen Palmzucker, »Kaffeezucker« genannt, der so lange eingekocht wird, bis er schwarz ist; den können Sie essen wie ein Bonbon, so einzigartig ist sein Aroma. Und in Indien gibt es Mangos einer seltenen Sorte, verschrumpelt, wenig Fruchtfleisch, die so intensiv schmecken, dass man’s gar nicht glauben kann.
Um solche Dinge zu finden, braucht man Glück, aber auch Talent. Leute fragen mich, wie man Foodhunter wird. Ich habe keine Ahnung, mir ist es einfach passiert. Ich bin eigentlich Landschaftsarchitekt, Schwerpunkt Landwirtschaft. Wie Lebensmittel hergestellt, angebaut, kultiviert werden, hat mich immer schon interessiert. Nach neun Jahren in Asien hatte sich mein Forschungsinteresse allerdings von der Architektur ganz hin zur Küche verschoben.
Man muss länger an einem Ort gelebt haben, um die Geheimnisse einer Region zu lüften, das geht nicht in ein paar Wochen oder Monaten. Man muss wissen, wie man Menschen kennenlernt, ihr Vertrauen gewinnt. Mein Geheimnis? Offen für alles zu sein. Das kann an einem Tag ein neues Pfefferkorn sein, an einem anderen ein Gewürz, eine Süßwurzel, ein Sirup, eine Beere, ein Honig; wovon ich die Finger lasse, ist Fleisch, Käse, Brot, kurz: alles, was leicht verderblich ist. Ist nicht praktikabel für mich, denn ich muss ja damit herumreisen, es verschiffen können. Meine Hauptkunden sind Küchenchefs, Patissiers, sogar Barmänner, aber auch Privatleute und Delikatessenhändler. Ich berate Lebensmittelhersteller und halte Vorträge. Demnächst möchte ich mein erstes Produkt international vermarkten: eine Gewürzmischung aus Fenchelblüten.
Es gibt noch viel zu entdecken, meine Weltkarte hat noch weiße Flecken. Ich war noch nie in Afrika, kaum in Südamerika. Ich will bald nach Kasachstan. Immerhin wurden hier die ersten Äpfel der Menschheit kultiviert. Es heißt, dort gibt es noch echte Wildäpfel in den Wäldern.
Mein Job ist nicht gefährlich, das Einzige, was mir droht, ist eine Magenverstimmung, die kann man sich aber überall holen, selbst in einem Sterne-Restaurant. Ob ich alles probiere, was mir Leute anbieten? Natürlich. Ich habe auch die schrecklichen Dinge gekostet, Affenhirn, Kugelfisch. Beides schmeckt nicht besonders, aber meine Neugier siegt immer über die Skepsis. Das ist eine Frage des Respekts und des Vertrauens. Warum sollte mir jemand was Schlechtes anbieten?
Mark Brownsteins süße Favoriten
Inle-See, Myanmar
Handgezogenes Toffee aus Palmzucker
Shanghai, China
Hickory-Nüsse, mit Zucker, Salz und Vanilleessenz karamellisiert
Krakau, Polen
»Ponchki«, ein Krapfen, bestreut mit kandierter Orangenschale
Istanbul, Türkei
Lokum (Konfekt aus Stärke und Zucker) mit einer gerösteten salzig-süßen Walnuss, dazu Kaymak (türkischer Rahm)
Hue, Vietnam
Gefrorene Crème Caramel
Manila, Philippinen
Sirup aus Calamondin-Orangen und Honig in einem Shake aus unreifer Mango
Malabar, Indien
Cashew-Kekse mit Kardamom.
(Fotos: Bernd Girrbach /Along Mekong Productions)