Es soll Menschen geben, vielleicht Amerikaner, die nennen Simit den »türkischen Bagel«. Nichts gegen Bagel, auch nichts gegen Amerikaner. Aber: der türkische Bagel? Klar, er ist rund. Ja, es befindet sich Sesam auf seiner Kruste. Stimmt ja alles. Aber, glauben Sie mir, der Vergleich wird dem Simit nicht gerecht. Echt nicht.
Bitte stellen Sie sich Folgendes vor, dauert nicht lange. Sie sind in Istanbul, auf dem Deck eines der alten Dampfer, die zwischen Europa und Asien pendeln. Sie fahren über den Bosporus, an der Hagia Sophia vorbei. Sie trinken einen türkischen Tee, über Ihnen kreisen Möwen. Auftritt der Delfine, sie springen neben dem Schiff aus dem Wasser. Ungelogen, ich habe es mal selbst erlebt. Und nun beißen Sie rein, in die Kruste, die süß schmeckt und ein bisschen salzig. Sie sollte noch warm sein. Sie verstehen in dem Moment, warum man Bagel belegt, den Simit dagegen selten. Der Simit hat keine Geschmackshelfer nötig, der Simit steht für sich. Für »keyif«, wie sie in der Türkei sagen. Ein kurzes Glück. Wohlgefallen. Genuss. Der Simit ist die Abkürzung dorthin, das schnellste und einfachste Glück am Morgen.
Jetzt aber zu Herrn Doğru. Der steht gerade auf der europäischen Seite vor seinem Ofen, genauer gesagt im Viertel Cihangir, und spricht von keyif. »Ohne Liebe geht es nicht«, sagt er. Das Simitbacken müsse man lieben. Şaban Doğru kommt ins Schwärmen. Er spricht von einer »Seele«, die seinen Ofen umgebe. Der ist so alt wie sein Laden, der »Cihangir Tarihi Simit Fırını«, ein Jahrhundert. Vier mal vier Meter ist der Ofen groß, eine Hitzekammer, die ihre Wärme ausstrahlt, und na klar, den Sesamduft. Mit einem Holzschieber gibt Doğru die rohen Teigkringel hinein, zehn Minuten später holt er sie als Simit wieder heraus. Den ganzen Tag über geht das so, die Simit müssen frisch sein. Auch der Teig, sagt der Meister, dürfe nicht länger als eine Stunde liegen. »Kleine Mengen!«, ruft er. Ihm hat früher eine Großbäckerei in den Vororten gehört, vor fünf Jahren übernahm er den Traditionsbetrieb. Weniger als 1000 Simit am Tag statt früher 5000. Sei ihm lieber, sagt er. »Die Leute hier wissen, was gut ist.«
Beim Tee vor dem Laden erzählt Doğru von den Sultanen, die sich ihre Sesamkringel schon im 16. Jahrhundert in den Palast liefern ließen. Wo früher das Osmanische Reich war, essen sie heute Simit, auch wenn sie Koulouri dazu sagen (in Griechenland) oder Devrek (in Serbien). In der Türkei ist der Simit heute ein Volksgebäck, der kleinste gemeinsame Nenner. »Es essen ihn Arme wie Reiche«, sagt Doğru. Gläubige wie Ungläubige. Kurden wie türkische Nationalisten. Der heutige Präsident, heißt es, hat als Junge mal Simit verkauft in den Straßen von Istanbul. Selbst das hat der Kringel überstanden.
Zu schaffen macht ihm die Hyperinflation. Die Mehlpreise haben sich vervielfacht, noch vor ein paar Jahren kostete ein Simit eine Lira. Jetzt hat die Simit-Kammer, ja, die gibt es, gerade mal wieder den Preis erhöht. Auf 7,50 Lira. Für Touristen aus Europa sind das keine 40 Cent, für Türken ist es: siebenmal so viel wie früher. Und das, obwohl sie in der Türkei keinen türkischen Sesam mehr verwenden, der wird in den Westen exportiert. Der Sesam auf dem türkischen Simit kommt aus Nigeria! »Ach«, sagt Doğru ohne Rücksicht auf nigerianische Gefühle, »wenn wir hier türkischen Sesam hätten – die ganze Straße würde duften.«
Der Meister ist kein Optimist. »Wir erleben noch die glücklichen Tage, bald kommt die Klimakrise, und das Wasser wird knapp.« Der Simit, logisch, werde dann noch teurer. Sagt Şaban Doğru. Gegen so viel Schwermut hilft nur ein bisschen schnelles Keyif. Oder anders gesagt: ein Bissen vom türkisch-nigerianischen Bagel.
Die Bäckerei:
Cihangir Tarihi Simit Fırını
Firuzağa, 59/A, Türkgücü Cd.
34425 Beyoğlu/İstanbul, Türkei,
Tel. 0090/506/8 27 10 89.