Die Dame in Schwarz

Ihr Leben lang suchte Ursula von Arx die Liebe ihrer Mutter - und den Namen ihres Vaters. Die Geschichte einer Unwillkommenen.

Wie anfangen?
Mit dem Mann, der mich zeugte, Myran Meyer, und nie erfuhr, dass ich bin?
Mit der Frau, die mich gebar, Marianne von Arx?
Oder, gleichsam zum Trost, mit einer Phrase? – Das Leben ist kein Wunsch-konzert.

Sie liebten sich, Myran und Marianne, er Lehrer, sie Schneiderin, Anfang 1945.
Ja, ich denke, sie liebten sich.
Denn als ich, zehn Jahre nach Vaters Tod, im August 2012, seinen besten Freund fragte, ob er, Myran, der nie geheiratet hatte, ihm je von einer großen Liebe erzählt habe, gestand der Freund, einmal nur habe mein Vater, längst greis, von einer Frau gesprochen, einer Schneiderin aus Zug, begehrt und verloren, schön wie keine.
Und sonst?
Nichts.
Ich hoffe, sie liebten sich, Myran Meyer und Marianne von Arx, als sie mich machten.
Hier mein Geburtsschein –
Am zweiten November tausend neun hundert fünfundvierzig um elf Uhr fünfzehn Minuten ist geboren worden zu Zürich, In der Hub 34: von Arx, Ursula Verena, Tochter der von Arx, Maria Anna, geboren 7. Oktober 1922, von Kerns, Kanton Obwalden, wohnhaft in Zürich. Auszug aus dem Geburtsregister des Zivilstandskreises Zürich. Aus Band VI, Seite 11, Nr. 6477 des Jahres 1945.

Meine Mutter war dreiundzwanzig.
Ich bin, glaube ich, mit ihr versöhnt.
Als ich Mama, auf den Tod krank, zum letzten Mal sah, am 29. April 1986, fragte sie: Kannst du mir verzeihen?
Ja, Mama, das kann ich.
Ich nannte sie Mama.
Ob ich sie beim Abschied berührte?
Ich weiß es nicht.

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Kann sein, dass ich es nicht wagte.
Sieben Jahre lang hatte ich sie nicht mehr gesehen.
Am nächsten Tag war sie tot, 30. April 1986.

Mariannes Vater, mein Großvater, war Schreiner in Zug gewesen, römisch-katholisch, rechtschaffen. Marianne hatte fünf Brüder und zwei Schwestern. Die älteste, so weiß ich heute, brachte sie, die außerehelich Schwangere, nach Zürich in ein katholisches Heim für ledige Mütter und für solche, die es noch würden, In der Hub 34, das Monikaheim. Die Leute waren sehr nett, als ich anrief und bat, das Haus besuchen zu dürfen, achtundsechzig Jahre nach meiner Geburt. Im Zug reiste ich nach Zürich, nahm die Tram zum Irchel, Haltestelle Milchbuck, 27. März 2014, ich wagte nicht zu fragen, in welchem Raum ich zur Welt kam.

Aber es tat gut, den Ort zu sehen, wo alles begann –
Mein offener Schädel, das Kleinhirn im Licht.
Die Gaumenspalte.
Mein Buckel, die verkrümmte Wirbelsäule, Kyphoskoliose.
Die rechte Lungenhälfte, die kaum etwas leistet.

Sofort riefen sie einen Pfarrer, der mich taufte, 2. November 1945. Im Kinderspital Zürich schlossen sie meinen Kopf, legten mich, so weiß ich heute, auf den Bauch und kamen, als es darum ging, die Zeit meines Lebens zu schätzen, auf sieben Wochen.
Bald, so hoffe ich, erreicht mich die Kopie meiner Krankengeschichte von einst.

Luzern, 28. März 2014
Kinderspital Zürich
Steinwiesstraße 75
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich nehme Bezug auf meinen Anruf von heute Vormittag und möchte Sie hiermit bitten, mir, falls noch irgendwo vorhanden, Kopien meiner Krankengeschichte zukommen zu lassen. Wie bereits mündlich mitgeteilt, wurde ich unmittelbar nach meiner Geburt im Monikaheim (2. November 1945) im Kinderspital Zürich behandelt. Gemäß Ihrer Auskunft lagern die Akten, die vor dem Jahr 1965 entstanden, mittlerweile im Staatsarchiv des Kantons Zürich. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie veranlassen könnten, dass mir eine Kopie davon zugestellt wird. Ich bin nun 68 Jahre alt und möchte Antworten finden auf das, was in meinem Leben geschah. Gern bin ich bereit, bei Ihnen vorzusprechen, falls dies nötig ist.

Mit herzlichen Grüßen.

Ich weiß nicht, weshalb ich glaube, ich sei ein halbes Jahr im Kinderspital Zürich gelegen, auf dem Bauch, ich weiß nicht mehr, wer mir sagte, man habe mich danach in die Universitätsklinik Balgrist gebracht, ein zweites halbes Jahr lang, im Gipsbett. Irgendwann, 1946 oder später, lebte ich im Haus meines Onkels Sepp und seiner Frau, Sarnen, Obwalden, er war Lehrer, Maler, Künstler.

Und eines Tages, ich muss etwa drei gewesen sein, setzt er mich in sein Auto, und wir fahren hinauf nach Kerns, er hält vor einem Haus mitten im Dorf, mein Onkel Sepp, Mariannes Bruder, nimmt mich an der Hand und führt mich in eine Stube, nicht groß, eine Frau steht dort, drei Mädchen stehen dort, sie starren mich an, Spielzeuge auf dem Tisch, Dinge, die ich noch nie gesehen habe, und der Onkel sagt: Das ist Frau F., sie ist jetzt deine Mutter, sei lieb zu ihr.

Das ist jetzt deine Mutter.
Und ich stehe in dieser Stube, und sie starren mich an, ich möchte weinen.
Ich wollte weinen.
Nun bin ich bald siebzig, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geweint habe.

Ich war, bevor ich in Pension ging, Arztchefsekretärin im Kantonsspital
Luzern, siebenunddreißig Jahre lang bin ich dort Sekretärin gewesen, Pathologie, Ophthalmologie, Onkologie, Hämatologie, Gastroenterologie, Urologie, Neurorehabilitation.

Arbeiten konnte ich gut.
Ich weine nicht, ich will es lernen.
Und ich weiß noch, wie froh ich war, als es Abend wurde, man zeigte mir ein Bett, Urseli, das ist jetzt dein Bett, ich stieg in dieses hohe hölzerne Bett an der hölzernen Wand und deckte mich zu, endlich allein, eine weiße dicke schwere Decke auf mir.

Meine älteste Erinnerung.
Vielleicht meine schlimmste.
Frau F. war Hutmacherin, Herr F. Schreiner, sie hatten bereits fünf Kinder, ich war ihr sechstes, jüngstes, finanziert von der Invalidenversicherung der schweizerischen Eidgenossenschaft.
Wie ich sie nannte?
Mutter.
Vater.
Obwohl ich wusste, dass sie nicht meine Eltern waren.
Ich hatte, aus welchen Gründen auch immer, nie Eltern. Das war so.

Urseli von Arx hat keine richtigen Eltern.
Ich fragte mich nie, weshalb das so war, ich wagte es nicht. Ich dachte, es müsste so sein.
Du hast es nicht anders verdient.
Noch heute überfällt mich ab und zu dieser Gedanke.
Du hast es so verdient, so muss es sein.
Ich weiß nicht, ob jemand versteht, wie schwierig es ist, etwas, von dem man weiß, dass man es nicht denken soll, nicht zu denken.
Nun bin ich bald siebzig und am Anfang.

Die mich lieben – eine Hand voll Menschen –, nennen mich Ursulina.
Weil ich klein bin, 137 Zentimeter.
Achtunddreißig Kilo.
Ein Vögelchen.
Das irgendwann erfuhr, dass es doch eine richtige Mutter hat, Marianne.

Meine Pflegemutter schimpfte, sofort nach meiner Geburt sei Marianne mit einem Schweizer nach Kanada ausgewandert und habe dort eine zweite Tochter geboren.

Mehr wusste ich nicht.

Das Lernen fiel mir leicht, in der Schule war ich gut, und brachte ich manchmal ein besseres Zeugnis nach Hause als Helen, die jüngste Tochter der Familie F., die mit mir in der gleichen Klasse saß, sagte die Frau, die ich Mutter nannte: So ein Buckel macht bestimmt eine ganze Note aus.

Am liebsten lag ich im Bett.

Dann, ich war vielleicht achtjährig, kam ein Aufgebot der Invalidenversicherung, ich musste nach Zürich, Klinik Balgrist, um dort ein Korsett anzupassen, damit mein Rücken nicht noch mehr verkomme, Stangen aus Stahl, mit Wildleder bezogen. Jedes halbe Jahr, wohl zehn Jahre lang, reiste ich nun nach Zürich zur Kontrolle, trug tagsüber diesen Zwinger, der größer und länger wurde, stellte ihn nachts neben mein Bett in Kerns.

Tut dein Buckel weh?, fragten die Mädchen in der Schule.
Der tut nicht weh.
Darf ich ihn streicheln?
Streichle ihn nur.
Ist der aber hart.

Einmal, was sonst nie geschah, befahl mich der Lehrer an die Kletterstange.
Aber, Herr Lehrer, das kann die Ursula nicht!, schrie die Klasse auf.
Im Bett war ich gern – und in der Schule.

An einem Sonntagnachmittag, alle in Sonntagskleidern, wanderte die Familie F., ich mit ihr, hinauf nach Sankt Niklausen, da verlor ich einen Schuh, ich verlor meinen Schuh und ging weiter, ohne diesen teuren Sonntagsschuh, ich wagte nicht zu sagen, mein Schuh ist weg, mir fehlt ein Schuh.

Zu Hause erst fragte meine Pflegemutter: Wo ist dein zweiter Schuh?
Verloren.
Dann schwieg sie eine Woche lang.
Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich gestreichelt hätte.
Oder auf den Schoß genommen.
Dass mich überhaupt je jemand gestreichelt hätte.

Klingt das weinerlich?

Das Leben ist kein Wunschkonzert.
Einen Schulschatz habe ich mir nie erlaubt, nicht einmal im Geheimen, ein Schulschatz, dachte ich, steht mir nicht zu. Jahre später, am Spital in Luzern, verliebte ich mich trotzdem in einen Arzt.
Du bist verheiratet, sagte ich.
Ja und?, sagte er.
Und im Grunde war ich froh, dass mir die Moral zur Seite stand.

Ich war vielleicht zehn oder elf, als ich wieder einmal nach Zürich musste. Mein Stahlkorsett. Im Keller der Klinik Balgrist waren die Werkstätten, Männer mit feinen Sägen und kleinen Hämmern. Plötzlich drückte mich einer an sich, umfing mich mit beiden Armen, hielt mich fest, schob seine Hand zwischen meine Beine und stöhnte, ich begriff nicht, stand da, begriff nicht und begriff dann doch und schlug um mich und schrie und rannte durch einen langen, langen Flur, Türen links, Türen rechts, immer in der Angst, der Mann sei hinter mir, drei Meter noch, zwei, niemandem habe ich je davon erzählt, keinem Vater, keiner Mutter, keiner Mama.

Dir glaubt sowieso niemand. Sei froh, dass du überhaupt bist.
Ich fürchte, das versteht niemand.
Ich verstehe es selber nicht.
Die Frau, die nun meine Mutter war, befahl ihre fünf Kinder und mich jeden Sonntag zur Messe. Und schimpfte, wenn wir uns umschauten in der Kirche oder lachten. Lag im Beinhaus ein Toter, schickte sie mich, wie es Brauch war, mit einer Karte dorthin, herzliches Beileid von Familie F., damit ich die Karte neben der Leiche in einen Korb legte. Noch heute träume ich davon – ich allein im Beinhaus mit einem Toten, den ich nicht kenne.

Oder ich träume, ich sei allein im Wald.
Der Wald macht mir Angst, ich weiß nicht, weshalb.
Als ich, dem Dorf Kerns entkommen, in Luzern wohnte, die Stube zum See, aber das Schlafzimmer zum Wald, ertrug ich die Nähe der Tannen nicht, verließ die Wohnung nach einem Jahr.
Eines Tages redete Frau F., meine Mutter, Marianne, die mich geboren hatte, sei mit Mann und Tochter aus Kanada zurück und lebe nun in Zürich.

Ich war elf Jahre alt.

Am liebsten im Bett.

Und Wochen später hieß es, Marianne möchte mich sehen.
Meine richtige Mutter.
Die älteste Tochter der Familie F. brachte mich nach Zürich, im Hauptbahnhof kam sie mir entgegen, meine Mama, sie bückte sich zu mir, nahm mich in die Arme, eine schlanke Frau im Deuxpièces, ich glaube, sie nannte meinen Namen, Ursula, Urseli, sie streichelte mein Haar – mehr weiß ich nicht.
Und daran erinnere ich mich, dass ich Bauchweh hatte.
Mein Bauchweh.
Das ich immer habe, wenn ich weinen möchte.
Bauchweh und Atemnot.

Bevor Mama starb, am 30. April 1986, hatte ich sie sieben Jahre lang nicht mehr gesehen. Sie wollte mich nicht mehr sehen, und ich hatte aufgehört, sie darum zu bitten.
Sieben Jahre.

Schließlich, einige Monate vor ihrem Tod, rief mein Onkel an, Sepp von Arx, Marianne liege im Zürcher Waidspital, Pankreaskarzinom, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Und also fuhr ich nach Zürich, klopfte an ihre Tür, Mama saß auf dem Bett, stand, als sie mich sah, sofort auf und schob mich hinaus auf den Flur, hinüber in einen kleinen Raum, Mama schloss schnell die Tür.

Noch heute weiß ich nicht, weshalb sie nicht zu mir stand.
Weil ich Schande über sie brachte?
Weil ich bucklig bin und klein?
Einen Sprachfehler habe?
Zwei Jahre Sekundarschule in Kerns, ein drittes in Sarnen, ich wollte Krankenschwester werden oder Dolmetscherin.

An Weihnachten schickte Mama ein Kärtchen.

Ich traf sie einmal im Jahr, in Zürich, in Luzern, sie kam im Deuxpièces, lächelte, nahm mich in die Arme.
Mama sagte, ihr Mann wisse nicht, dass sie mich treffe, ihr Mann wolle nicht, dass sie mich sehe.
Ich fragte nichts.
Fragte nicht, Mama, weshalb bist du nach meiner Geburt, 1945, nach Kanada gegangen? Weil ich ein Krüppel bin?
Was mich heute, im Mai 2014, wohl am meisten umtreibt, ist diese Mail meiner Halbschwester –

17. April 2014

Liebe Ursula

Es freut mich sehr, von Dir zu hören! Ich empfinde es nicht als Belästigung, wenn Du mich fragst, wann Marianne ausgewandert ist. Es muss 1951/1952
gewesen sein. Ich weiß, dass ich zur Welt kam, kurz nachdem meine Eltern British Columbia erreicht hatten, am 25.02.1953.
Liebe Grüße.

Das Leben ist kein Wunschkonzert.
Fast siebzig, erfahre ich jetzt, dass vieles anders war als erzählt.
Dass Marianne, meine Mama, erst ins Ausland ging, als ich schon sechs oder sieben war.
Wo war sie in den Jahren zuvor?
An meinem Gipsbett?
Kurz vor ihrem Tod, Marianne lag nun im Spital von Männedorf, rief ich sie an, März 1986, eine junge Frau nahm ab, meine Halbschwester, seit 33 Jahren auf der Welt, ich nannte ihr meinen Namen, Ursula von Arx, Luzern.
Sie sagte: Tut mir leid, ich kenne Sie nicht.

Das war die Wahrheit.

Sie kannte mich nicht, meine Halbschwester wusste nicht, dass es mich gibt.

Mama hatte mich ihrer Tochter verschwiegen.
Jetzt will ich wissen, was war. Das bin ich mir schuldig.
Nach der Sekundarschule schickte man mich nach Tafers, Kanton Fribourg, zu Vinzentinerinnen. Dort blieb ich ein Jahr und lernte Französisch, war dann in Bulle, drei Jahre, besuchte die Handelsschule der Menzinger Schwestern.
Wir trugen Uniform, blaue Deuxpièces und weiße Handschuhe.

Dreimal bekam ich einen Verweis, mit Kopie an den Vormund in Kerns.
Weil ich Camus las, La Peste.
Weil ich die Zeitschrift Annabelle las, Hochzeitsannoncen darin und Reklame.
Weil ich den Brief, den ich Mama schickte, zugeklebt hatte.
Heute muss ich lachen.
Wieder und wieder schrieb ich Marianne Briefe, bat sie, mich im Internat zu besuchen. Sie kam selten.
Einmal saßen wir in einem Restaurant, ich war zwanzig und fragte: Mama, wer ist mein Vater?
Hör auf damit.
Warum darf ich das nicht wissen?
Weil du dazu kein Recht hast.
Dazu habe ich sehr wohl ein Recht, Mama.
Diese Frage will ich nie mehr hören.
Dann kam Mama immer seltener.

Einmal, ich weiß nicht mehr wann, schenkte sie mir eine Stickerei, eine Blume. Jahre später, noch vor ihrem Tod, schmiss ich sie weg.

Der beste Freund meines Vaters, als ich ihn im August 2012 besuchte, sagte, so gut immerhin habe er Myran Meyer gekannt, um zu wissen, dass mein Vater mich gesucht hätte, hätte er von mir gewusst.
Mein Bauchweh.
Myran Meyer starb am 15. Juli 2002.
Das Internat beendete ich mit der Note 5.6, 1966, am liebsten wäre ich im Welschen geblieben. Frau F., die ich Mutter nannte, meinte, in Kerns, Obwalden, sei mir am wohlsten, ihr Sohn, ein Elektriker, brauche eine im Büro. Also zog ich wieder in das Haus, das ich vier Jahre zuvor verlassen hatte, war tags Sekretärin im Erdgeschoss, lag nachts im hölzernen Zimmer, die schwere Decke auf mir.

Frau F. klopfte nie an, wenn sie in mein Zimmer kam.
Sie sagte: Wenn es dir bei uns nicht passt, kannst du gehen.
Ich blieb sieben Jahre.

Jeden Samstag fuhr ich nach Zürich, nahm die Tram hinauf nach Fluntern, besuchte die Arztsekretärinnenschule, ein ganzes Jahr lang. Bei der Prüfung zog ich die Frage, die ich nicht ziehen wollte, das Thema Lunge, der Lehrer fragte: Was sagt Ihnen der Begriff Cor pulmonale?
Heute weiß ich es.
Ich bestand trotzdem.
Mutter, ich habe eine Stelle am Kantonsspital Luzern.
So.
Am 1. März fange ich dort an.
Dann brauchst hier nicht mehr zu wohnen, sagte der Sohn.
Ich war nun siebenundzwanzig.
Einmal im Jahr traf ich Mama.
Ich mache dir keine Vorwürfe, Mama, was geschehen ist, ist geschehen, aber bitte sag mir, wer mein Vater ist.
Hör auf damit.
Warum?
Hör auf.

Ein Bild meines Vaters machte ich mir nie, ich dachte mir nie aus, wie er sein könnte, ob groß oder klein, reich oder arm, Pfarrer oder Räuber.
Ich wollte nur wissen.
Um nachts, allein im Wald, allein auf den Friedhof, nicht aufzuschrecken.
Ich zog nach Sarnen, Brünigstraße, wohnte bei einer Freundin und fuhr nach Luzern zur Arbeit, Pathologisches Institut, Anfang März 1973 bis Ende Mai 1975.
Manchmal fragte mich ein Kind, weshalb ich so seltsam spreche.
Weil ich im Gaumen ein Loch habe.
Tut das weh?
Es tat weh – nicht im Gaumen. Von allen Mängeln, die ich habe, innere und äußere, schmerzt mein Sprachfehler am meisten. Manchmal sitze ich im Bus, eine Freundin neben mir, ich beginne zu reden, plötzlich äfft mich einer nach.
Lieber schweige ich.

Dass ich den Hörer auflegte, macht mich heute noch stolz.

Schließlich wechselte ich nach Luzern, lebte in einem kleinen Zimmer, dann im Hirtenhof, die Stube zum See, das Schlafzimmer zum Wald, ich blieb nur ein Jahr, zog nach Kriens, dann auf den Bramberg, fast dreißig Jahre war ich dort, den Pilatus vor mir, die Rigi, keine schlechte Zeit.
Mama schrieb kaum noch.
Sie lebte nun in Männedorf, und wenn ich sie traf, in Luzern oder Zürich, schimpfte sie über die Männer, ich weiß nicht, weshalb, sie schimpfte über die Männer, alle Männer sind gleich, Männer sind Trottel.
Mama, du hast für mich getan, was du konntest, aber sag mir: Wer ist mein Vater?

Ich glaube, der größte Sieg, den ich, fast siebzig, noch feiern könnte, wäre die Herrschaft über meine Gedanken – nicht mehr zu denken, Ursula von Arx verdient, was sie plagt.

Ab und zu trafen sich Mariannes Brüder und Schwestern zu einem Fest, man lud mich ein, ich ging hin, stand am Rand, stumm, klein, bucklig, und fragte meine Onkel, meine Tanten nach meinem Vater.
Wüssten wir es, liebe Ursula, wir würden es dir sagen.
Drei, vier Tage nach Mamas Tod rief Sepp an, Mariannes Bruder, er sagte, bei der Abfassung der Todesanzeige sei ein Versehen passiert, auf der Liste der Trauernden fehle leider mein Name.
Weshalb?

Die erste Fassung – da war dein Name noch drauf – hat Mariannes Mann verloren, bei der zweiten ging er irgendwie unter, ein Versehen.
Dass ich den Hörer auflegte, macht mich heute noch stolz.
1976 ließ ich mir die Gaumenspalte schließen, das Loch in meinem Mund, und besuchte dann die Logopädie – ich kann nicht beschreiben, was ich fühlte, als ich meine Stimme zum ersten Mal hörte, festgehalten auf einem Band.
Das war nicht ich.
Das war ich.

Nicht richtig reden können behindert mehr als ein Buckel, eine Herzklappe, die nicht gut schließt, eine Lunge, die zu wenig leistet.
Seit fünfzehn Jahren trage ich nachts eine Maske, das Ende eines CPAP-Geräts, Continuous Positive Airway Pressure, das mir beim Atmen hilft, meine schwachen Lungen trainiert – die Gesundheit hat in mir zu wenig Platz. Bald, fürchte ich, brauche ich Sauerstoff.
Kein Wunschkonzert.

Zwei Jahre war ich auf der Pathologie, dann zehn in der Augenklinik, 1975 bis 1984, das zehnte war schlecht, ein Kummerjahr.
Kann ja sein, dass ich, klein und leise, andere dazu einlade, mich mit ihrem Mist zu beladen.
Kann gut sein.
Aber irgendwann war ich nicht mehr bereit, die Grillen meines Chefs auszuhalten.
Nicht mehr bereit, die Schuld auf mich zu nehmen, wenn eine Krankenschwester, obwohl ich ihr den Namen des Medikaments richtig genannt hatte, einem Operierten ein falsches Medikament spritzte.
Und fragte den Chef: Arbeite ich schlecht oder zu wenig?
Nein, sagte der, sonst hätte ich Sie nicht angestellt. Und Ihren Buckel, den hatten Sie ja schon damals.

Mein Chefarzt –

Ich wechselte zur Allgemeinen Medizin.
Spielte zu Hause Cello, kein ganzes, ein Siebenachtel, versöhnte mich so mit der Welt.
Bach, Vivaldi, Brahms.
Heute schmerzt der Arm, die Schulter, wenn ich zum Bogen greife, ich spiele kaum noch.
Doch wenn etwas tröstet, dann diese Musik, Vivaldis Cellokonzert, c-Moll, vielleicht gespielt von Sol Gabetta, Bachs Johannespassion, die Matthäuspassion, Mozarts Requiem.
Ich begann zu zeichnen, zu malen, modellieren – mein Wohnzimmer steht voll von Figuren und Köpfen.

Reiste nach Griechenland, sieben Mal, jedes Mal auf eine andere Insel, nach Tunesien, Israel, in die USA, acht Mal war ich in Berlin, vielleicht meine liebste Stadt.
Vielleicht deshalb, weil er einst dort war – Myran Meyer, Vater ohne Kind.
Ja, ich denke, sie liebten sich, als sie mich machten, Myran und Marianne, im kalten Januar 1945.

Neulich fragte mich einer, was ich zu meinem Vater sagen würde, würde ich ihn je treffen, irgendwo, irgendwie.
Ich erschrak.
Ich erschrak so sehr, dass ich kaum noch Luft bekam, während Tagen wieder nicht aß.
Weil ich dachte, mit meinem Vater zu reden, selbst im Himmel, stehe einer wie mir nicht zu.
Vielleicht will er gar nicht, dass ich mit ihm rede.

Ich saß in der hintersten Bank, als der Pfarrer von Männedorf zur Abdankung schritt, 3. Mai 1986. Marianne K., meine richtige Mutter, sei eine Frau von tiefster christlicher Überzeugung gewesen, hilfsbereit und offen für die Nöte anderer,
in örtlichen Heimen habe sie Alte und Kranke betreut, unermüdlich, beseelt vom Einsatz für die Schwachen, ich saß in der hintersten Bank, meine Verwandtschaft in der vordersten –

Ich weiß nicht, ob Sie das kennen, diesen Wunsch, nicht mehr zu sein, sich aufzulösen, jetzt und sofort.
Ich saß in der hintersten Bank, meine Tanten und Onkel in der vordersten.
Hilfsbereit und offen für die Nöte anderer –

Dann ging es zum Friedhof.
Ich stand ganz hinten.
Jetzt tritt eine junge Frau zu mir, schön und hoch, sie lächelt schüchtern und nimmt mich am Arm, zieht mich vors Grab, meine Halbschwester Evi, ich stehe zwischen den Onkeln und Tanten und möchte, weil mir so schlecht ist, weg.
Weg von hier.
Aber ich bleibe.
Bin immer geblieben, mein Leben lang.
Obwohl ich nicht weiß, weshalb Marianne mich ihr Leben lang verschwieg, bin ich mit ihr versöhnt.
Ich bin nicht wütend auf sie.
Wenn, dann auf mich.

Weil ich so lange glaubte, ich müsste loben und danken, nur dafür, dass ich bin.
Gestern, als ich nicht schlafen konnte, schrieb ich diesen Satz –

Das Wissen darum, mich ein Leben lang falsch verhalten zu haben, macht mich traurig und krank.
Wochen nach Mamas Begräbnis lud ihr ältester Bruder Otto zu einem Treffen, alle Onkel und Tanten waren bei ihm, sieben.
Und ich.
Ich sagte, mit der Wahrheit könne ich umgehen, selbst wenn sie bitter sei, nicht aber mit Lügen. Bitte sagt mir, wer mein Vater ist.
Da schwiegen sie lange.

Bis der Älteste anhob: Ursula, wir wissen es wirklich nicht, wir haben uns darum nie gekümmert, hatten ja alle unsere eigenen Familien und Probleme.
Zwei Jahre später gestand mir eine Cousine, die Tochter dieses ältesten Onkels Otto, ihr Vater habe einst erzählt, er und seine Geschwister hätten, als Marianne schwanger war, einen Vertrag unterschrieben, niemandem je zu verraten, wer sie geschwängert hatte.
Weil mein Vater ein Unmensch war?
Weil er oder ich Schande über die Familie brachten?
In jener Zeit begann ich, mich schwarz zu kleiden.
Schwarz gefällt mir. Schwarz, finde ich, passt zu mir. Schwarze Kleider, rote Lippen, rote Nägel.
Schwarz schützt.

Schwarz bedeutet Geborgenheit, mit mir sein, ohne Angst vor Menschen, ohne reden zu müssen.
Im Spital riefen mich manche »Die Dame in Schwarz«.
1999 starb mein Onkel Paul, auch er ein Maler, ich ging zu seinem Begräbnis, sah meine Verwandten wieder.
Als deine Mutter, sagte Sepp, mit dir schwanger war, schnürte sie sich den Bauch flach, damit niemand sah, wie es um sie stand.
Mama.
Das Denkbare wagte ich nicht zu denken.
Meine Mama.
Kaum Platz in ihrem Bauch.
Erst sieben Jahre später, 2006, fragte ich einen Arzt, ob es möglich sei, dass der Zustand, wie ich geboren wurde, zurückzuführen sei darauf, dass die schwangere Marianne sich während Monaten den Bauch flach band.
Mein offener Schädel.
Die Gaumenspalte.
Mein Buckel, die verkrümmte Wirbelsäule.
Die rechte Lungenhälfte, die fast nichts leistet.
Die Herzklappe, die nicht schließt.
Sogar wahrscheinlich, sagte der Arzt.
Ich machte ihr nie Vorwürfe.
Vielleicht hätte ich sollen.
Ich arbeitete.
Gastroenterologie.
Arbeiten konnte ich gut.

Im Juli 2006 fand man in meiner rechten Brust einen Knoten, ich entschied mich für eine Totalamputation, schluckte dann fünf Jahre lang Zytostatika, Arimidex, und hatte Glück bis heute.
Spielte Cello, immer wieder Cello, ich modellierte, tröstete mich bei Bach, bei Brahms, Mozart, reiste nach Berlin, immer wieder.
Und ging zu den Begräbnissen der Onkel und der Tanten.
Vor Weihnachten 2011 gab ich die Wohnung auf, in der ich fast dreißig Jahre gelebt hatte, Bramberg, zog in eine Siedlung an den Rand der Stadt, zweieinhalb Zimmer im zweiten Stock, hell, groß, das reicht.
Dann –

Im Januar vor zwei Jahren, im Januar 2012, rief hier eine Cousine an, Kathrin, die Tochter von Paul.
Ob sie mich besuchen dürfe.
Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag sie kam.
Sie kommt und setzt sich zu mir.
Und fängt an: Ursula, wir, deine Cousins und Cousinen, haben beschlossen, dir endlich zu sagen, wer dein Vater ist, wer dein Vater war.
Ich atme nicht.
Myran Meyer.
Myran Meyer?
Lehrer in Zug, dann Rentner in Andermatt, gestorben vor zehn Jahren.
Ihr alle habt gewusst, wer mein Vater war?
Nicht alle, sagt Kathrin.
Und warum erzählt ihr mir das erst jetzt?
Tut mir leid.
Myran Meyer, wie schreibt man das?
Ich setzte mich an den Computer, gab seinen Namen ein.

*30.7.1907 in Cham ZG, von Andermatt UR. Alt Lehrer in Andermatt. Aufgewachsen in Zug, Untergymnasium in Einsiedeln, Lehrerseminar in Zug und Schwyz (Lehrpatent 1927). Regie- und Schauspielunterricht, Universitätsstudium in Zürich und Paris (Sorbonne). Lehrer in Privatschulen in Morges, Château-d’Œx, Zugerberg (Montana), Ecole Du Montcel bei Versailles, Schweizerschule Barcelona 1937/42. An der Stadtschule Zug 1942/72. Dazwischen als Musiker, Schauspieler, Regisseur, Reporter, Kfm. Manager, Artisten-Impresario in Paris, Marseille, Berlin, Wien, Nordafrika und Spanien. Freier Radiomitarbeiter und Publizist, eigene Handpuppenbühne. Regie an Volks-, Jugend- und Kindertheatern. Mitgl. der regionalen Schulfernsehkommission 1963/69.

Nach Mitternacht stellte ich den Computer ab, ich konnte nicht schlafen, wollte weinen, atmen, stand auf, ging durch die Wohnung, rief am anderen Tag den Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein an.
Eine Frau nahm ab.
Sie sagte, sie habe meinen Vater gut gekannt.
Wie war er?
Wie er war? Selbstbewusst, groß, stark, streng, begabt mit Fantasie. Und lustig konnte er sein, sehr lustig. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen seinen Nachruf, Mitteilungsblatt 1/03.
Myran Meyer.

Ich gewöhne mich daran, nie zu erfahren, weshalb ich von ihm nicht wissen durfte.
Und gehe davon aus, dass sie sich liebten, Myran und Marianne.
Das reicht.
Nach der Pensionierung, 1972, zog er nach Andermatt, Kanton Uri, ins Tal, das sein Vater, mein Großvater, einst verlassen hatte, dort, verliebt in Land und Leute, wurde Myran Talarchivar der Korporation Ursern.

Ende Juni 2012 wählte ich die Nummer des Rathauses, Mitte Juli setzte ich mich in den Zug nach Andermatt, ein Mann zeigte mir den Stammbaum der Meyer, noble Leute, Ratsherren, Oberrichter, Offiziere, Landammänner, Hoteliers, Postpferdehalter, Fremdenführer, Skilehrer, Myran Meyer sei ein geselliger Mensch gewesen, gern gesehen in den Wirtshäusern des Tals, ein Geschichtensammler, unermüdlich. Dann schenkte er mir eine CD, darauf Vaters viele Aufsätze, Hexenwahn im Urnerland, Winterverkehr über den Gotthardpass, solche Dinge.

Und Sie glauben mir einfach so, dass ich seine Tochter bin?
Sie gleichen ihm so sehr, sagte der Mann, da braucht es keine Genanalyse.
Zum Abschied gab er mir Vaters kleine Lupe, sein altes Sackmesser, ein Metermaß, seinen Stift, das Holz aus Mahagoni.
Dann suchte ich sein Grab, Schnee lag im Friedhof, ich fand es nicht, ich fand es nicht.
Nicht einmal das.

Und als ich, wieder zu Hause an meinem Tisch, mit seinem Mahagonistift schreiben wollte, vielleicht Myran Meyer, seinen Namen, oder irgendetwas –

Ich konnte nicht, es ging nicht.
Myran Meyer.
Wochen später, an einem Donnerstag, fuhr ich wieder nach Andermatt, 23. August 2012, und ging in das Haus seines besten Freundes, Gotthardstraße, ich fragte, ob Myran, der nie geheiratet hatte, ihm je von einer großen Liebe erzählt habe.
Einmal nur, da war er schon sehr alt, hat er von einer Frau gesprochen, eine Schneiderin aus Zug, begehrt und verloren, schön wie keine.
Und sonst?
Nichts.

Dann sagte er: Hätte Myran gewusst, dass es Sie gibt, er hätte Sie gesucht.
Endlich fand ich sein Grab, einen flachen grünen Stein in der Mitte von Blumen, alle welk, Myran Meyer, 1907–2002.
Papa.
Ich fror.

Und wie jetzt aufhören?
Mit einer neunten Reise nach Berlin, die Nägel grün, den Schal im Wind.

Illustration: Paula Bulling