Es war einer jener Tage, bei denen man merkt: Jetzt hält die Zeit den Atem an und ich werde ein Leben lang daran zurückdenken. Letzter Schultag vor den Sommerferien, traditionelles Zeugnis-Pizza-Essen mit meinem 16 Jahre alten Großen. Der die Dinge eher mit sich selbst ausmacht, wie man so sagt. Doch da erzählte er mir ungefragt, er würde jetzt ab und zu kiffen.
Einige in seiner Klasse, das wussten wir, haben schon mit 14 angefangen. Sie sind, wie wir in der Familie so sagten, schon krass drauf: kiffen, feiern und komische Sachen machen, klauen zum Beispiel. Ein Kriminalhauptkommissar erzählte bei einem Elternabend zum Thema »Drogenberatung«, dass Kiffen und Saufen in Berlin-Mitte unter Pubertierenden recht verbreitet sei. In Bezirken wie Wedding oder Neukölln testeten die Jugendlichen Mut und Grenzen eher beim S-Bahn-Surfen oder Auf-Masten-Klettern. Es war der Elternabend meines Kleinen. 13-jährige Mädchen aus seiner Klasse waren in der Schule mit Wodka erwischt worden. Meinem Kleinen hat das Angst gemacht, er findet alle Drogen scheiße; noch, sage ich mal.
Alkohol, sagte mein Großer, trinke er nicht. Es gebe eben die, die tränken - und die, die kifften. Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung trinken zehn Prozent der Jugendlichen regelmäßig Alkohol, also mindestens einmal die Woche. Und 11,6 der männlichen und 5,7 Prozent der weiblichen 12- bis 17-Jährigen haben mal Cannabis probiert. 2,2 Prozent der Jungs und 0,8 Prozent der Mädchen kiffen regelmäßig. Zu diesen zwei Prozent gehört mein Großer jetzt offenbar.
Beim Zeugnis-Pizza-Essen habe ich einfach nur zugehört und Fragen gestellt. Wo denn? Ah, auf dem Abschlusswochenende am See, nach dem dir drei Tage übel war, von der »sauren Milch«. Wie oft denn? Zwei, drei Mal bis jetzt. Was gefällt dir daran? Dass man voll lustig wird und so gechillt. Mhm, verstehe. Aber du weißt, dass das deinem noch wachsenden Hirn schadet und dass du dich jetzt echt aufs Abi konzentrieren musst und dass man durchs Kiffen extrem träge werden kann? Klar, bin ja nicht blöd! Und dass du aufpassen musst, weil du ein sehr hartnäckiger Mensch sein kannst? Ich weiß schon, dass ich einen obsessiven Charakter habe, Mama!
Ehrlich: Ich finde Kiffen besser als Saufen. Und dass man sein Leben nicht stets nüchtern und sachlich gestalten möchte, auch als Jugendlicher nicht, finde ich absolut nachvollziehbar. Ein einziges Mal war mein Großer leicht angetüdelt nach Hause gekommen und wusste nicht mal, was in der Cola drin gewesen war, Wodka, Gin, Rum, Hauptsache süß. Ich selbst hatte in meiner Jugend immer schon vorher was getrunken, wenn mal ein Joint rumging, beides zusammen ging bei mir nicht und einen unendlichen Abend lang wurde ich vom Kiffen mal so psychotisch, dass ich noch 27 Jahre später voll des Horrors daran zurückdenke. Aber generell war ich kein Kind von Traurigkeit.
Es sei doch super, wenn mein Sohn mir das alles erzählt. Das sagten viele Freunde, die ich fragte, wie wir uns jetzt verhalten sollten. Hhm, murmelten sie, weiß auch nicht, kannst es ja nicht verbieten. Und: spricht für euer gutes Verhältnis. Oder: Hoffe nur, dass meine nicht damit anfängt, ich hing ja selbst Jahre lang drin. Die andere Variante, vom Vater unserer Kinder: Ohgottohgottohgott, ich trinke ja nicht mal Wein! Und eine Kollegin schockte mich mit der Nachricht, sie sei kürzlich auf der Beerdigung ihres 18-jährigen Neffen gewesen, der an seinem Drogenkonsum gestorben sei.
Sein Schulfreund, das hatte ich inzwischen erfahren, hatte sich das Dope aus dem Küchenregal geholt, wo seine Mutter ihren Vorrat aufbewahrt.
In den Weihnachtsferien nahm die Geschichte dann rasant Fahrt auf. Das ist ja manchmal so im Leben eines Menschen, da platzt plötzlich ein Knoten und danach ist alles anders. In den Monaten zuvor hatte ich ihn immer mal wieder gefragt, wie das gerade so sei mit dem Kiffen, ob er das eigentlich rauche (nee, wir haben da so ’nen Verdampfer, das ist gesünder und billiger) und ob ihm klar sei, dass er von der Polizei für den Besitz von Cannabis belangt würde (logo) und erst recht für den Verkauf (Mama, ich bin doch kein Ticker!). Am Ende der Sommerferien, nachdem ich sogar die Großeltern befragt hatte und in mich gegangen war, hatte ich meine Strategie der des Vaters angenähert und meinem Sohn gesagt, dass ich das Kiffen scheiße fände und dass er es, wenn überhaupt, nur mal am Wochenende und nicht zuhause machen dürfe. Sein Schulfreund, das hatte ich inzwischen erfahren, hatte sich das Dope aus dem Küchenregal geholt, wo seine Mutter ihren Vorrat aufbewahrt. Kein Wunder, so hatte der Kommissar gesagt, dass die Kinder kiffen, wenn ihre Eltern die Partypeople von Berlin-Mitte waren. Ich will mir nicht irgendwann mal vorwerfen, zu locker gewesen zu sein, dachte ich. Und dass der Vater trotzdem noch den bad guy und ich den good guy geben könne.
Kurzfassung der Eskalation: Mein 16-jähriger Sohn hängt in der Silvesternacht bis morgens um halb fünf mit Dealern an einem Platz in Mitte ab und krümelt danach mit sinistren »neuen Freunden«, die bei uns inzwischen »Slomos« heißen, sein und mein Zimmer mit Gras voll. Am Neujahrstag schläft er bis drei Uhr nachmittags seinen gechillten Schlaf, wir finden derweil tiefgefrorene Erbsen und Chilis (?) in der Wohnung, außerdem eine Bong (!) und eine elektronische Feinwaage (!!).
Die Streitereien, das Türenschlagen, die Beschimpfungen des Vaters, die Beteuerungen an die Mutter, die Verweigerungen, das Abhauen, das Zurückkommen ... es gäbe viel zu erzählen. Alles nicht zum ersten Mal passiert in der Menschheitsgeschichte, aber das macht die Angst, Ohnmacht und Unsicherheit, die man als Mutter oder Vater in so einer Situation empfindet, ja nicht kleiner. Werde ich mein Kind verlieren? Was kann ich tun?
Nach den Weihnachtsferien gingen der Vater und ich zur Suchtberaterin. Nachdem wir unser Geschichtchen erzählt hatten, sagte sie, wir machten das schon richtig. Hier säßen oft ganz andere Fälle: Eltern, die den Kontakt zu ihrem Kind verloren hätten seit es vier ist oder acht; Kinder, die durch was auch immer traumatisiert seien; Eltern, die mit ihren Kindern zusammen kifften. Also: Haltung zeigen, in Kontakt bleiben, ruhig auch Verbote aussprechen, Deals aushandeln, auf schulische Leistungen gucken und das Kind in der Freizeit nicht sich selbst überlassen, damit es nicht in Daddeln und Kiffen und Chemie abdriftet. »Kiffen und Chemie«, sagte die Beraterin, seien gerade sehr in, und Berlin sei nun mal die Party-Hauptstadt der Welt. Hier eine Safer-Use-Info für Ihren Sohn, damit er wisse, was er konsumiere. Und schicken Sie ihn ruhig zu unserer Jugendsprechstunde, auch wenn er nicht will.
Die für mich wohl bewegendste Erkenntnis dieser Tage: Bis meine Jungen selbständige, gefestigte Persönlichkeiten sind, ist es noch ein weiter Weg. Im Prinzip sind sie immer noch dabei, das legendäre Weg-da-Spiel des Entwicklungspsychologen Jean Piaget zuspielen: Wenn ich aus dem Raum rauskrabble, sind die Eltern weg; fühlt sich cool an, frei; aber auch ungewohnt, erschreckend; also muss ich zu spüren bekommen, dass sie noch da sind, auch wenn ich sie grad nicht sehen will; denn so helfen sie mir bei der Abgrenzung und Konturierung meines Ichs, mit Reibung, Auseinandersetzung und Autorität.
Der Begriff »Autorität« hat dieser Tage übrigens für mich einen neuen, coolen Klang bekommen, wir sagen dazu nun auch: Credibility. Junge Männer, das bekomme ich gerade zu spüren, brauchen viel mehr Halt und Zärtlichkeit, als es den Anschein hat. Schon lang nicht mehr habe ich meinen Großen so oft in den Arm genommen wie in diesem neuen Jahr.
Er hat es sich gefallen lassen.
Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Berlin.