Protokoll eines Tages:
Nein, es ist noch nicht Aufstehzeit +++ Nein, es ist zu früh, um bei den Nachbarskindern zu klingeln +++ Halt, das ist viel zu viel Marmelade +++ Nein, nicht nur die Marmelade ablecken, iss das Brot dazu +++ Stopp! Nicht mit Marmelade-Fingern auf das Sofa +++ Nein, zum Frühstück essen wir nie Eis +++ Nein, kein Sommerkleid, such dir was Wärmeres aus +++ Nein, kein Kleid über den Pullover +++ Hör bitte auf zu spielen und zieh dich jetzt an +++ Nein, nicht noch eine Geschichte vorlesen, wir müssen zum Kindergarten +++ Nein, wir fahren nicht mit dem Skateboard zum Kindergarten, nimm das Rad +++ Hör auf, Quatsch zu machen, wenn ich deine Zähne putze +++ Nein, Lippenstift ist nur für Mamas +++ Nein, Kajalstift ist kein Malstift +++ Nein, du musst den Fahrradhelm aufsetzen +++ Nein, keine Sandalen, im Winter trägt man Stiefel +++ Nein, wir nehmen nicht alle Puppen mit zum Kindergarten +++ Nein, nur eine Puppe +++ Eine! +++ Stopp! Nicht auf der Straße radeln +++ Nein, wir gehen nicht gleich nach dem Kindergarten zum Spielplatz, wir kaufen erst ein +++ Nur ein Überraschungsei! +++ Nein, heute keine Gummibärchen +++ Nein, kein Eis +++ Nein, du hast genug Malbücher +++ Nein, wir können nicht »Prinzessin« in deinen Kinderausweis eintragen +++ Halt, kletter nicht so hoch auf das Spielgerüst +++ Stopp, schaukel nicht so wild +++ Halt, lass das andere Kind auch mal schaukeln +++ Nein, wir müssen jetzt nach Hause, morgen wieder +++ Leg die Schaufel hin, wir sind spät dran +++ Halt, erst wäschst du dir die Hände, dann kriegst du den Apfel +++ Nicht am Pullover abtrocknen +++ Nein, vor dem Abendessen keine Plätzchen +++ Nein, wir kaufen jetzt keine Katze +++ Auch kein Pony +++ Nein, dazu isst man kein Ketchup +++ Halt, bleib bitte noch sitzen, wir essen noch +++ Hör auf, mit dem Löffel auf den Teller zu schlagen, das tut in den Ohren weh +++ Vorsicht, schaukel nicht so mit dem Stuhl +++ Nein, eine Folge Pippi Langstrumpf ist genug fernsehen +++ Nein, die Nachbarskinder schlafen schon +++ Nein, es ist Schlafenszeit +++ Es ist egal, ob die Kinder in Australien gerade aufstehen, du schläfst jetzt +++ Nein, heute schläfst du mal nicht bei uns +++ Nein, eine Geschichte +++ Zwei, aber nicht drei +++ Nein, die Mama kommt nicht noch mal, schlaf jetzt +++ Nein, es ist halb fünf, zu früh zum Aufstehen
Bin ich so schlimm? So schlimm, wie sich das anhört? Ein ganzes Tonband voller Verbote: Dauernd sage ich »Nein!«, »Hör auf!«, »Stopp!« Wie fremd die eigene Stimme klingt: nach Kasernenhof und trauriger Kindheit. Dabei hat mich die Kindergärtnerin einst gelobt, was für ein ausgeglichenes Kind ich hätte. Und doch habe ich dreißigmal »Nein!« gesagt und fast fünfzig Verbote ausgesprochen – an einem normalen Tag, an dem weder ich schlechte Laune hatte noch mein Kind besonders wild gewesen wäre. Die anderen Eltern im Supermarkt, im Museum, auf dem Spielplatz haben auch oft geschimpft, ermahnt, gemaßregelt und bessergewusst. Man muss nur mal drauf achten, oder, wie ich, ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen. Und sich später, wenn das Kind schläft, anhören, was man seinem Kind den ganzen Tag so vorschreibt. Dabei stelle man sich vor, man selber wäre vier Jahre alt und einen Meter fünf groß. Und dann steht da dieser Vater, 1,90 Meter, tiefe Stimme, die Nerven strapaziert, weil wieder so lange diskutiert wird vor dem Kleiderschrank. Und dieser allmächtige Papa will einfach nicht verstehen, dass man unbedingt das Marienkäferkleid anziehen MUSS! Egal, ob es zu kalt ist, heute ist Marienkäfertag.
Hört man sich die Debatte zwischen Vater und Tochter lang genug auf dem Tonband an, denkt man als plötzlich Außenstehender: »Mensch, Marc, lass sie doch! Dann zieht sie das Kleid eben über den Pullover, egal, wie das aussieht, sie mag es.« Das fällt als Erstes auf: wie viele »Nein!« unnötig sind oder fragwürdig begründet. Wie die Regel: »Kein Eis am Vormittag!« Warum soll Eis nur nachmittags Sinn machen? Die Ernährungswissenschaft schreibt es jedenfalls nicht vor. Oder wenn das Kind mit Papas Skateboard zum Kindergarten fahren will, dann sage ich nur »Nein!«, weil ich spät dran bin. Es gibt natürlich sinnvolle Verbote, »Radel nicht so schnell!«, rufe ich, weil die stark befahrene Straßenkreuzung näher kommt. Dennoch: Die Frage, welche Regeln Kinder zu befolgen haben und wie streng man sein muss, ist weitgehend ungeklärt. Es gibt zwei Extreme, die antiautoritäre Erziehung und die strenge asiatische Tigermutter. Dazwischen ist viel Spielraum, da passen ganze Regalreihen Erziehungsliteratur rein, von Remo Largos Kinderjahre: Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung bis zu Bernhard Buebs Lob der Disziplin. Nimmt man noch all die Forendiskussionen von Eltern im Internet dazu, könnte man problemlos die nächsten 14 Jahre nur über Für und Wider nachlesen, und das Kind würde von allein volljährig. »Niemand weiß, wie perfekte Erziehung geht«, sagt der Autor Jasper Juul (Nein aus Liebe: Klare Eltern – starke Kinder), selbst die besten Eltern machten pro Tag zwanzig Fehler, so Juul. Beängstigend, und beruhigend. Wichtig ist, habe ich gelernt, seine Verbote mal zu hinterfragen, ein Tonband hilft. Ein Kollege hat beim Mittagessen erzählt, dass er seinen eineinhalbjährigen Sohn gefragt habe: »Und, wie heißt du?« – Der Sohn antwortete: »Nein.«