Die 39 Stufen

Zum Palais des Festivals in Cannes geht es 24 Stufen hoch, die einen in den Himmel des Kinos führen können. 24 Filme während des zwölftägigen Filmspektakels zu sehen, ist aber entschieden zu wenig. Außerdem gibt es ja diesen wunderbaren Hitchcock-Thriller The 39 Steps. Dementsprechend ist unser Mann in Cannes genau in 39 Filme gegangen. Ein Rückblick, der auch ein Ratschlag ist, was man in nächster Zeit angucken sollte – und was nicht.

Glücklich: Die französische Regisseurin Maiwenn ist für ihren Film "Polisse" ausgezeichnet worden:

Thor
(Kenneth Branagh; reguläre Kinovorstellung)
Was hat dieser Film in Cannes zu suchen? Im Festival nichts, aber am Tag davor kann man ja noch mal normal ins Kino gehen, oder? In diesem Fall rüttelt der Besuch am guten Eindruck, den ich beim ersten Mal von dem Fantasy-Spektakel hatte. Damals – vor drei Wochen – hatte ich Spaß daran, die Versuche des Shakespeare-Verehrers Kenneth Branagh zu verfolgen, Ideen und Emotionen seines Lieblingsdichters in die Geschichte zu schmuggeln. Diesmal fallen die käsigen Effekte und grenzwertigen Bauten mehr ins Gewicht, und ich wünsche mir, Natalie Portman hätte mehr zu tun als schön und manchmal drollig zu sein. Ein anderes Problem ist die 3-D-Technik des Kinos. Erst die vierte Brille bringt den gewünschten Effekt, aber auch dann bleibt eine Unschärfe, die mir erstmals jene 3-D-Kopfschmerzen beschert, von denen etliche Kinogänger berichtet haben. Ist das wirklich die Zukunft des Kinos?

Midnight In Paris
(Woody Allen; Wettbewerb/außer Konkurrenz/Eröffnungsfilm)
Die hübsche, kleine, tief reichende Geschichte eines verunsicherten Kaliforniers (Owen Wilson), der während eines Urlaubs in Paris jede Nacht in die von ihm idealisierte Ära der Zwanziger Jahre transportiert wird. Dort diskutiert er in der französischen Kapitale abwechselnd mit Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald, Gertrude Stein und anderen Berühmtheiten wie Pablo Picasso und Salvador Dalí – und ändert bald sein Leben komplett. Es ist Woody Allens schönster Film seit einem Vierteljahrhundert, seit The Purple Rose of Cairo (1985), und eine Liebeserklärung an eine Stadt, wie er sie vorher nur New York zukommen ließ (1979 mit Manhattan). Midnight in Paris ist voller Trouvaillen. "Rhinozerosse!", sagt Salvador Dalí (Adrien Brody), und schon dafür, wie er es sagt, möchte ich Woody Allens Film gerne wiedersehen. Bald.

Meistgelesen diese Woche:

Sleeping Beauty
(Julia Leigh; Wettbewerb)
Eine junge Studentin tut alles für Geld, bereitwillig stellt sie ihren Körper für Experimente jeder Art zur Verfügung. (Warum sie trotzdem nicht in der Lage ist, ihre Untermiete zu zahlen, ist eines der vielen logischen Rätsel des Films.) Aber dann will sie doch wissen, was man mit ihr anstellt, wenn sie betäubt in ein Zimmer mit ältlichen Herren gesteckt wird. Wir haben es gesehen, aber nicht richtig verstanden. Und wir begreifen und fühlen auch nichts, wenn sie sieht, was passiert (ist). Die Regisseurin hätte gerne, dass wir verstört sind, aber der Film verströmt im Grunde vor allem Ödnis. Θ

We Need To Talk About Kevin
(Lynne Ramsay; Wettbewerb)
Tilda Swinton ist keine Schönheit im üblichen Sinn, aber es gibt derzeit nur wenige Darsteller(innen), die einen so gefangen nehmen wie sie. In diesem überladenen Familiendrama spielt sie eine Mama, die mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert ist und sich bis zu seiner Volljährigkeit fragt, was sie falsch gemacht hat. Leider kann sie gar nichts richtig machen, weil das Kind sie seit seiner Geburt auf eine Weise ablehnt, als stammte es direkt aus einem Horrorfilm à la Das Omen. Das andere Kernproblem des Films ist: Wie, bitte, soll man glauben, dass Tilda Swinton mit John C. Reilly liiert sein könnte? Schade um die Hauptdarstellerin.

Restless

(Gus van Sant; Un Certain Regard)
Als im Vorspann der Tropfen der Firma „Imagine“ aufs Wasser plumpst und die Namen Brian Grazer und Ron Howard als ausführende Produzenten erscheinen, frage ich meinen Nachbarn, ob das wirklich ein gutes Zeichen ist. Nachher bin ich mir sicher: dass die Berlinale dieses süßliche Krebs-Drama als Wettbewerbsbeitrag abgelehnt hat, war völlig richtig. Mia Wasikowska, die das einzig Gute an Tim Burtons Alice in Wonderland und eine von vielen herausragenden Darstellerinnen in The Kids Are All Right war, spielt eine unheilbare Patientin, die aber genug Kraft für eine Liebesgeschichte à la Harold & Maude hat – diesmal freilich mit zwei Teenagern. Sie hat Krebs, aber so einen wie Winona Ryder in Es begann im September, dessen Anwesenheit oft ausgeklammert werden kann, wenn man will. Gus van Sant, der gerne zwischen den Welten von experimentellem Kunstfilm (Elephant) zu Mainstream (Good Will Hunting) und zurück wandert, brauchte offensichtlich wieder ein bisschen Geld für eines seiner persönlichen Projekte.
Ein unglaublicher Gedanke: dass während der ersten Vorführung dieses sentimentalen Heulers der Gus-van-Sant-Fan Michael Althen für immer einschlief. Er hätte uns bestimmt die Vorzüge des Films einleuchtend erklären können. Und weil ich vermute, dass er ihm gefallen hätte, bekommt der Film ein Ω, so wie alle folgenden Werke, die ich als „Althen-Filme“ verstanden habe. Ω

Labrador
(Frederikke Aspöck; Wettbewerb/außer Konkurrenz)
Ein Großstadt-Journalist und seine dralle, schwangere Freundin besuchen ihren eigentümlich eremitischen Vater auf einer winzigen skandinavischen Insel. So wie alle reden, gehört das Paar nicht zusammen. Die Missverständnisse, die durch die Dialoge entstehen, könnten lustig bzw. spannend sein, aber sie sind vor allem enervierend, weil man mit keinem dieser drei Menschen länger zu tun haben möchte als nötig. Dementsprechend sind selbst 75 Minuten Laufzeit zu viel, und deshalb ist Labrador der erste Film dieses Festivals, den ich vorzeitig verlasse. Ich werde es verkraften, wenn ich nie erfahre, ob der eigenbrötlerische Vater was mit dem Tod seiner Frau zu tun hatte. #

Polisse
(Maïwenn [Le Besco]; Wettbewerb)
Es kommt nicht oft vor, dass der beste Film des Festivals schon am zweiten Tag läuft. Aber dieses sensationelle Pariser Polizeidrama, über das hier lange berichtet wurde, hat das Zeug dazu. Ω

Habemus Papam
(Nanni Moretti; Wettbewerb)
Eine schwere Enttäuschung: Nanni Moretti hat soviel Respekt vor der katholischen Kirche, dass er keine Papst-Satire gedreht hat, sondern ein Krisendrama mit halbgaren satirischen Spitzen. Man muss schon ein verbohrter Katholik sein, um sich darüber zu echauffieren, dass einen gewählten Papst-Kandidaten (der 85-jährige Michel Piccoli) so starke Zweifel befallen, dass er sein Amt nicht antritt. Dann rückt Moretti als Psychiater an, der nichts bewegen kann; Margherita Buy bemüht sich ebenso erfolglos; im Vatikan wird Volleyball scheinbar stundenlang gespielt (also bitte!); vor den Toren stehen die Gläubigen wie Lämmer; und das war’s. Das ist nicht skandalös respektlos, sondern skandalös langweilig.

Margin Call
(J.C. Chandor; Markt)
Im Filmmarkt von Cannes kann man immer wieder schöne Entdeckungen machen – wenn man denn als Pressevertreter reingelassen wird. Nicht so dieses Jahr. Da gab es nichts, das verheißungsvoller klang als die Filme der Offiziellen Sektion(en), und das spricht nicht nur für die Qualität des Wettbewerbs. Immerhin kann man manchmal auch verpasste Filme nachholen. Dieser hochkarätig besetzte Finanzthriller (Kevin Spacey, Jeremy Irons, Paul Bettany, Demi Moore und der wunderbare Stanley Tucci), in dem es um die Nacht vor dem erdrutsch-artigen Einbruch an den Devisenmärkten geht, erlebte seine Premiere bei der Berlinale. Wer weiß, ob und wie er in die deutschen Kinos kommt. Der Trip lohnt sich. Dass es mein einziger Markt-Besuch des Festivals bleiben würde, ahnte ich da nicht.

Hearat Shulayim
(Die Fußnote; Joseph Cedar; Wettbewerb)
Manchmal hilft bei aufdringlichen Filmen nur die Flucht in den Schlaf. In dieser israelischen Satire streiten sich zwei pedantische Gelehrte um den Umgang mit der Geschichte ihres Landes, ihres Glaubens und der Wissenschaft. Sie tun es auf verbitterte Art, und alles wird verschärft durch die Tatsache, dass es sich um Vater und Sohn handelt. Der Film selbst setzt Ausrufezeichen mit der Optik und vor allem der Musik, die mitunter auf einen einkeilt, als wisse der Regisseur, dass manche Zuschauer sich in den Schlaf flüchten möchten. Dennoch: Man kann eine Menge gegen den Film sagen, aber wenigstens ist er konsequent. *

Pirates Of The Carribean: On Stranger Tides

(Rob Marshall; Wettbewerb/außer Konkurrenz)
Der vierte Teil der Fluch der Karibik-Reihe ist nichts weniger als eine Katastrophe: fad, unglaublich hölzern inszeniert und mit einer fatalen Gewichteverschiebung. Jack Sparrow mag zwar der Star der ersten drei Teile gewesen sein, aber in der Geschichte war er nur eine Nebenfigur. Es waren Elisabeth Swann (Keira Knightley) und Will Turner (Orlando Bloom), die die Filme antrieben – Sparrow war das bunte Beistück. Nun ist er die Kernfigur, und das bekommt dem Film gar nicht. Abgesehen davon funkt es zwischen Johnny Depp und Penélope Cruz in keiner Sekunde, ähnlich wie schon bei Depp und Angelina Jolie in The Tourist. Langsam scheint es an der Zeit zu sein, das Bild zu überdenken, das man von Johnny Depp hat. Vielleicht ist er doch ein Söldner (geworden); ein cleverer freilich, der es fertig gebracht hat, achtstellige Beträge abzukassieren und sich trotzdem wie ein sympathischer Außenseiter geriert.

Wu Xia
(Peter Ho-Sun Chan; Wettbewerb/außer Konkurrenz)
Martial Arts meets CSI. Ein logisch denkender Detektiv kommt einem ehemaligen Mörder auf die Spur. Der hatte sich von seinem Klan abgesetzt und sein Familienglück in einem kleinen Dorf gefunden. Selbst als er zwei gemeingefährliche Verbrecher außer Gefecht setzt, gibt er sich alle Mühe, unbeholfen und unwissend zu wirken. Aber dem hartnäckigen Ermittler kann er nichts vormachen. Das Tragische daran: Durch seine Erkenntnisse macht der Detektiv den verbrecherischen Klan auf den Abtrünnigen aufmerksam, was wiederum für heftige Kampfszenen sorgt. (Das erinnert natürlich sofort an David Cronenbergs A History Of Violence, der allerdings doch in einer ganz anderen Liga spielt.) Die Choreographien sind zum Teil atemberaubend, vor allem am Ende, wenn der Mobboss mit dem Körper Schwertstöße abfedert. Das macht es sogar wett, dass der Film weder menschlich noch mythologisch weit kommt.

Michael
(Markus Schleinzer; Wettbewerb)
Wie konnte Michael zum Päderasten werden? Falsche Frage, wird nicht beantwortet. Was treibt Michael an? Falsche Frage, wird nicht beantwortet. Was geschieht in seinem Keller? Unangenehme Frage. Der merklich von Ulrich Seidl (Hundstage) und Michael Haneke (71 Fragmente) beeinflusste Film will nicht werten, sondern beobachten. Die Frage ist, wer das sehen will.

Le Gamin Au Vélo
(Das Kind auf dem Fahrrad; Jean-Pierre & Luc Dardenne; Wettbewerb)
Es ist ja fast ein bisschen langweilig, die Dardenne-Brüder zu loben, aber was können sie denn dazu, dass sie einen bemerkenswerten Film nach dem anderen drehen? Nach Rosetta, Der Sohn, Das Kind und Lornas Schweigen folgt nun also diese Geschichte über einen etwa zehnjährigen Jungen, der von seinem egoistischen (und überforderten) Papa (Jérémie Renier) aufgegeben und von einer jungen, schönen Frau (Cécile de France) aufgenommen wird. Kann das gut gehen? Die Sorgen im Publikum wachsen, weil so etwas nur selten klappt, nicht im Leben und kaum häufiger im Kino, ganz zu schweigen vom europäischen Autoren-Kino. Aber die Dardenne-Brüder werden mit zunehmendem Alter immer hoffnungsvoller, wobei ihr Schluss gar nicht einmal unglaubwürdig ist. Was ihren Umgang mit Kindern betrifft, sind sie längst die legitimen Nachkommen von François Truffaut. Ω

The Artist
(Michel Hazanavicius; Wettbewerb)
Der Regisseur hat seine ersten Erfolge mit den bei uns quasi unbekannten OSS-Komödien gefeiert. Sie ermöglichten es ihm, in schwarz/weiß diese sehr schöne, im uralten 1,33:1-Format gedrehte Komödie über einen Stummfilmstar (herrlich: Jean Dujardin) zu produzieren, der den Wechsel zum Tonfilm verpasst (warum, das begreifen wir ganz am Ende) und in Armut zu versinken droht. Parallel dazu erfährt die einst von ihm geförderte Peppy (Bérénice Bejo) einen kometenhaften Aufstieg. The Artist erzählt nichts, was man nicht schon einmal gesehen hätte – aber er tut es auf eine unterhaltsame Art, die obendrein Menschen, die noch nie einen Stummfilmen gesehen haben, neugierig auf diese Form machen könnte.

Martha Marcy May Marlene
(Sean Durkin; Un Certain Regard)
Einer dieser unabhängig von Hollywood produzierten amerikanischen Indie-Filme, die froh sind, Fragen aufzuwerfen, ohne alle Antworten zu geben. Das kann aber auch zur Masche werden und zur Feigheit verleiten. Als Martha (Elisabeth Olsen, die kleinste der Olsen-Schwestern) bei ihrer Schwester auftaucht, ist sie ganz offensichtlich gezeichnet von den beiden Jahren, in denen sie verschwunden war. Wir sehen in Rückblenden, dass Martha bei einer Sekte mit einem scheinbar sanften, in Wahrheit übermächtigen Anführer (John Hawkes) untergekommen war. Aber was soll ihre schlecht informierte Schwester denken? Der Film deutet mehrere Lösungen und Nebenpfade an, die er dann aber doch nicht beschreitet. Das ist ok, aber es wirkt eben doch inkonsequent, dass er sich für nichts richtig entscheidet. *
Halt auf freier Strecke
(Andreas Dresen; Un Certain Regard)
In diesem Fall ist "schwer erträglich" ein großes Lob. Andreas Dresen erzählt die letzten Monate im Leben eines unheilbaren Krebspatienten (Milan Peschel) geraderaus, ohne Schönfärbereien oder Kompromisse. Ein Glück, dass dieser Film nicht am Todestag von Michael Althen vorgeführt wurde. Wenn man danach noch klar denken kann, fragt man sich, warum dieser Film nicht im Wettbewerb laufen durfte. Ω

Apollonide

(Bertrand Bonello; Wettbewerb)
Früher war alles besser. Zum Beispiel die Edelbordelle, wenn man diesem Film glauben darf, der in ein Pariser Etablissement gegen Ende des 19. Jahrhunderts eintaucht und nicht nur die Arbeit, sondern auch den Alltag von Prostituierten zeigt. Soso. Das ist längst nicht so schlecht, wie es während des Sehens wirkt. Aber es bedarf doch wohl eines Textes des ehemals ständigen SZ-Kritikers Hans Schifferle, um alle Vorzüge von „Apollonide“ zu begreifen. (In einem dieser Texte, die dann viel besser sind als der Film.) Immerhin weiß ich dank des internationalen Verleihtitels, dass der Puff im englischsprachigen Raum früher "House of Tolerance" hieß. Θ

The Tree Of Life
(Terrence Malick; Wettbewerb)
Psst, nicht weitersagen: Auch der neue Film von Terrence Malick (The New World), der seit Jahren, ach was: Jahrzehnten erwartet wurde, ist nicht unbedingt für jedermann. Ich habe höchsten Respekt vor den Versuchen des Regisseurs, die Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu erzählen und mit einer symbolischen Vater/Sohn-Geschichte (und der Präsenz von Brad Pitt) aufzupeppen. Die Schönheit der Aufnahmen ist überwältigend. Aber insgesamt lässt mich der Film kalt, und die schönen Naturaufnahmen erinnern mich an Koyaanisqatsi. Ω

Hors Satan
(Bruno Dumont; Un Certain Regard)
Der Filmschwurbler Bruno Dumont (L’humanité) ist ein Liebling der Auswahlleute von Cannes und ein chouchou von Michael Althen. Seine Filme sind oft fies bis zum Abwinken und verweisen stolz auf ihre untergründigen Ebenen. Hors Satan ist die Geschichte eines leicht verlottert wirkenden Einsiedlers mit interessanten Fähigkeiten. Er bringt in Nord-Belgien Menschen um, die es nicht besser verdient haben, exorziert ein junges Mädchen, rammt einer Tramperin mit der hässlichsten Achselbehaarung der Filmgeschichte sein Ding in den Unterleib, bis ihr Schaum (oder Samen?) aus dem Mund kommt, und am Ende hilft er einer jungen Frau, den Tod zu überwunden. Klingt nach Action, ist aber durchsetzt mit vielen Passagen, in denen Menschen einfach nur von Ort A zu Ort B gehen. Wer’s mag. Diesen Film nach The Tree of Life zu sehen, ist doppelt verstörend, weil der Lauf der Dinge, der bei Terrence Malick noch so schlüssig ausgesehen hatte, wieder auf den Kopf gestellt wird. *Ω

Les Impardonnables

(Denen man nicht vergibt; André Téchiné; Quinzaine des Réalisateurs)
André Téchiné, jahrelang ein Stammgast im Wettbewerb, muss beim Festivalleiter Thierry Frémaux in Ungnade gefallen sein. Wieso sonst lief dieses in Venedig spielende Ensemble-Stück nur in der 1969 geschaffenen Nebensektion "Quinzaine des Réalisateurs"? André Dussolier und die immer noch schöne Carole Bouquet spielen ein Paar, um das herum viele Nebengeschichten passieren, die der Regisseur fast mühelos miteinander verbindet. Kein ganz großer Wurf wie Les voleurs (1996), aber ein sehenswerter Téchiné. Ω

Le Havre
(Aki Kaurismäki; Wettbewerb)
Lichter der Vorstadt (2006) schien sogar die meisten Kaurismäki-Fans kalt gelassen zu haben, aber jetzt wird die Rückkehr des Finnen bejubelt, als hätte er das Kino neu erfunden. Die Geschichte vom gutherzigen Schuhputzer Marcel Marx (André Wilms), der einem schwarzen Flüchtlingsjungen bei der illegalen Weiterreise von Le Havre nach England helfen will, hat viele hübsche Momente. Kaurismäki spielt mit all den Klischees, die sich aus dieser Konstellation ergeben und reduziert wie immer alles aufs Wesentliche. Im Grunde erzählt er eine typische Hollywood-Geschichte so anti-hollywoodesk, dass es eine Unverfrorenheit ist, dass er damit durchkommt. Wie so oft, wenn ich so etwas sehe, frage ich mich, wie die Jubler reagiert hätten, wenn da nicht Aki Kaurismäki gestanden hätte, sondern zum Beispiel Tom Shadyac (Patch Adams)?

The Beaver
(Der Biber; Jodie Foster; Wettbewerb/außer Konkurrenz)
Mel Gibson spielt sich als depressiver Firmenchef, der mit Hilfe einer Biber-Puppe an der linken Hand ein spektakuläres Comeback feiert, die Seele aus dem Leib, während Jodie Foster in der Rolle seiner Frau so oft so besorgt guckt, dass man sich Sorgen um sie macht. So wie es aussieht, wird der Film dem in den USA umstrittenen Gibson nicht zum Comeback verhelfen. Er lag jahrelang auf Eis – so lange, dass Jennifer Lawrence (inzwischen Oscar-nominiert für Winter’s Bone) fast noch Babyspeck im Gesicht hat –, und jetzt liefert er in erster Linie eine neue Definition für den Begriff "Talk to the Hand".

Hanezu No Tsuki
(Naomi Kawase; Wettbewerb)
Immer wieder raunt eine Stimme, zwei Berge hätten um die Gunst eines dritten Bergs gebuhlt. Das sei seit Urzeiten so gewesen und auch bei Menschen zu beobachten. Dann erleben wir, wie eine Japanerin sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden kann. Und wieder raunt die Stimme die Berge-Geschichte. Ich komme mir vor wie bei einer Hypnose, und immer, wenn ich nach kurzen, unruhigen Schlaf-Attacken wieder wach werde, prüfe ich zunächst einmal, ob mir in der Zwischenzeit jemand etwas geklaut hat. *

Belmondo, Itineraire

(Vincent Perrot; Hommage)
Unfasslich rührend: die Hommage an Jean-Paul Belmondo. 24 Weggefährten des 78-jährigen Schauspielers werden auf die Bühne gebeten, vom Regisseur Georges Lautner über die Kollegin Claudia Cardinale bis zum immer noch hyperagilen Jean Rochefort. Danach folgt ein ordentlicher Dokumentarfilm über seine imposante Karriere. Da wird mir noch einmal klar, dass Belmondo mich seit meiner Jugend begleitet hat, direkt nach Harold Lloyd und Louis de Funès, aber vor Terence Hill und Bud Spencer – und dass außer ihm nur Harold Lloyd haften geblieben ist. Schön, dass Cannes einem auch solche Erinnerungen schenkt. Ω

Melancholia
(Lars von Trier; Wettbewerb)
Behandelt man einen Provokateur zu gut, kommt der ins Grübeln. Und spannt den Bogen noch heftiger. Lars von Trier, dessen Weltuntergangsstück Melancholia in Cannes so freundlich, ja begeistert aufgenommen wurde wie lange nichts von ihm, hat den Bogen überspannt. Wieviel davon Absicht war, weiß er vermutlich selbst nicht. Ob Cannes auf die albernen Nazi-Anmerkungen übertrieben reagiert hat, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass Trier nicht glaubwürdig klang, als er seine Nazi-Keule schwang (über seine "Endlösung"-Entgleisung gegen Journalisten und seine plumpen Spitzen gegen die Oscar-Gewinnerin Susanne Bier sprach dagegen fast niemand); und dass er erst wieder in seinem Element zu sein schien, als er vom Festival ausgeschlossen und zur "Persona non grata" erklärt worden war. Als sei er noch (oder schon wieder) ein Kind, das zeigen muss, dass es die größte Schaufel für den Sandkasten besitzt, warf der Däne gleich wieder mit Dreck um sich. Wem diese Muskelspiele am Ende mehr schaden werden, ist noch unklar. Im Grunde müsste Trier als Verlierer angesehen werden. Zumindest bis er mit einem seiner nächsten Filme in Berlin oder Venedig reüssiert und Cannes unerfreuliche Neuigkeiten verkünden muss.
Ach so, der Film... Ist gut (wenn auch nicht herausragend wie Breaking The Waves oder Dancer In The Dark), sieht höllisch gut aus, hat Spezialeffekte, die die meisten Amerikaner vor Neid erblassen lassen dürften. Trier setzt Kirsten Dunst mal in ein anderes Licht, und wieder einmal sind die Männer die Weicheier, inklusive Kiefer Sutherland als Ehemann von Charlotte Gainsbourg. Als Jack Bauer hätte er es jedenfalls nicht zugelassen, dass ein anderer Planet auf die Erde zurast. Mein Nachbar erinnert mich gleich an 24, als er eine von Sutherlands Lieblingsbemerkungen aus der unsterblichen TV-Serie zitiert: "We have to put up a perimeter!" Und ich ergänze: "Now!!" Ω

La Conquête
(Die Eroberung; Xavier Durringer; Wettbewerb/außer Konkurrenz)
Französische Politik als Kabarett, in dem eitle Männer alberne Machtkämpfe und Intrigen austragen. (Herrlich: Bernard Le Coq als Jacques Chirac.) Am Ende ist Nicolas Sarkozy Staatspräsident, aber ein geschlagener Mann, weil er es auf Kosten seiner Ehe und seiner Menschlichkeit geworden ist. Angeblich soll Sarkozy den Film mögen, was erstaunlich wäre, weil er wie eine kleine Wurst rüberkommt, fast so schlecht wie Villepin.

Oslo, 31. August

(Joachim Trier; Un Certain Regard)
Ein junger, intelligenter Däne, der wegen Drogensucht lange in Behandlung war, hat Freigang. Er begegnet in Oslo einigen alten Bekannten, von denen die meisten skeptisch bis ablehnend auf ihn reagieren, und macht neue Bekanntschaften, von denen einige vielversprechend wirken. Aber Anders ist nicht auf einen Neubeginn aus, sondern auf einen sauberen Abschluss. Wie jemand freiwillig aus dem Leben scheidet, obwohl er so viele Möglichkeiten hat, wurde im Kino selten so kühl und konzentriert gezeigt. In einigen Punkten ist der Film herausragend durchdacht, schon die Tonmischung ist außerordentlich. Ω

Loverboy
(Catalin Mitulesco; Un Certain Regard)
Ein junger, hübscher Rumäne lächelt junge Frauen an und bringt sie dazu, sich für ihn zu prostituieren und freiwillig ins Ausland verkaufen zu lassen. Das ist unabdingbar, damit er nicht wegen Anstiftung zur Prostitution belangt werden kann. Der Film guckt sich das ziemlich kühl an, und diese Distanz tut dem Film gut.

Ichimei

(Harakiri – Der Tod eines Samurais; Takashi Miike; Wettbewerb)
Ein doppelter Etikettenschwindel, wie man ihn nur selten erlebt. Wer ein paar der Filme von Takashi Miike kennt, ob nun Ichi, der Killer oder Gozu, der freute sich bei der Aussicht, einen Thriller von ihm im Wettbewerb zu erleben. Aber schon die Kombination Samurai/Harakiri hätte einem zu denken geben müssen. Dies ist ein ultralangsames Moralstück. Seufz! Erschwerend kommt hinzu, dass der Film in 3D präsentiert wurde, ohne dass irgendwas nach 3D aussehen würde. Einem Schneckenrennen beizuwohnen, wäre deutlich spannender gewesen.

La Piel Que Habito

(Die Haut, in der ich wohne; Pedro Almodóvar; Wettbewerb)
Ihre Haut ist unwirklich schön, das fällt spätestens beim zweiten Blick auf. Beim ersten registriert man natürlich zunächst den eigenwilligen Ganzkörperanzug, den Vera trägt: fleischfarben, mit auffällig dezenten Nähten, unterhalb des Busens, am Bauch, der Taille, den Beine, der Schamzone. Die Geschichte dieser schönen Erscheinung ist bewegt, aber wie bewegt, davon hat man keine Vorstellung, als Die Haut, in der ich wohne beginnt.
Pedro Almodóvars 19. Spielfilm ist ein Melodrama über unsterbliche, also gefährliche Liebe, Obsessionen und Anmaßung. Der brillante Chirurg Robert Ledgard (Antonio Banderas) hat eine ethisch diskutable Methode entwickelt, menschliche Gene und damit ihre Haut zu manipulieren. Während er in der Öffentlichkeit noch hypothetische Vorträge hält, hat der Witwer in Vera (Elena Anaya, die vor zehn Jahren in Lucía und der Sex eine tolle Nebenrolle hatte) den praktischen Beweis längst daheim. Aber warum hat er sie weggeschlossen?
Das wäre schon genügend Stoff für einen Film. Längst nicht genug für Almodóvar, der es darauf anlegt, die Filme von Alfred Hitchcock und Georges Franju (Augen ohne Gesicht) nicht bloß zu zitieren, sondern hinter sich zu lassen. Also kommen nach einer Weile Versuchung und Vergebung, Rache, Familiengeheimnisse und eine Entführung hinzu, aber nicht mit den Ergebnissen, die man erwarten könnte. Der spanische Exzentriker schreddert den Katalog der großen Kinogefühle mit Wonne; besser gesagt: Er setzt das Skalpell an und setzt die ganze Geschichte aus heiterem Himmel aus einer anderen Perspektive zusammen.
Bei den meisten Filmemachern würde ein Viertel der Emotionen und Kolportage-Elemente ausreichen, um das Werk rettungslos aus dem Gleichgewicht zu reißen. Aber Almodóvar, dem in seiner Vita große Gesten keineswegs fremd waren, bleibt im Gegenteil kühl. Mitunter wirkt sein Ansatz fast unterkühlt. Das führt dazu, dass man auf Distanz bleibt, zum Beispiel mehr als in seinem Meisterwerk Sprich mit ihr (2002). Aber vermutlich ist das die einzige Art, die Geschichte nicht ins Lächerliche abgleiten zu lassen. Und uns einzuladen zu einem dritten Blick. ΩΘ

L’Exercice De L'État
(Der Minister; Pierre Schoeller; Un Certain Regard)
Französische Politik als Alltagskrimi, ein Ensemble-Drama, wie es im Kino offenbar nur die Franzosen hinbekommen. Der Film verfolgt das Schaffen des Verkehrsministers (Olivier Gourmet), der mit normalen Rückschlägen und ekligen Intrigen fertig werden muss. Nichts davon ist nur annähernd so lustig wie in La conquête, aber L’Exercice de l’État ist auch nicht als Satire konzipiert, sondern fast wie ein Thriller. Außerdem gibt es einen Moment der brutalen Überraschung, wie man ihn sogar in Horrorfilmen nur noch selten erlebt. Ω

In Film Nist
(Dies ist kein Film; Jafar Panahi & Mojtaba Mirtahmasb)
Das Arbeitsverbot für den iranischen Filmemacher Jafar Panahi ist eine Schande. Gleichzeitig macht man sich im Westen wahrscheinlich falsche Vorstellungen über sein Dasein während des Hausarrests. Das ist zumindest die Folgerung aus der Dokumentation Dies ist kein Film, die auf einem USB-Stick aus Iran nach Cannes geschmuggelt wurde. Darin sieht man Panahi, wie er daheim ist, telefoniert, Projekte und/oder seinen Fall bespricht und filmt. Man sieht auch, dass der Hausarrest wohl nicht mit Strafen zu vergleichen ist, die man aus China kennt oder der ehemaligen Sowjetunion. Das ist kein Trost für Panahi, aber ein bisschen erleichtert nimmt man das schon zur Kenntnis. #

Il Était Une Fois ... Orange Mécanique

(Es war einmal „Uhrwerk Orange“; Antoine de Gaudemar; Cannes Classic)
Ein Dokumentarfilm über die Dreharbeiten zu Stanley Kubricks Uhrwerk Orange. Den Film kenne ich auswendig, und außerdem reden in diesem nicht einmal einstündigen Rückblick die Beteiligten (wie Hauptdarsteller Malcolm McDowell) frontal in die Kamera. Deshalb kann ich es verkraften, die Dokumentation in einem 20º-Winkel zur Leinwand zu sehen. Aber wie kann man auf diesen Sitzen ganze Filme ansehen?
Uhrwerk Orange selbst schenke ich mir, schließlich ist dies (neben den Monty-Python-Werken) einer der wenigen Fälle, in denen ich die deutsche Synchronisation (Dialogregie: Wolfgang Staudte) noch besser finde als das Original.

Drive

(Nicolas Winding Refn; Wettbewerb)
Dieser existentialistische Actionfilm erinnert zunächst einmal schmerzlich daran, dass keines der großen Festival zur richtigen Zeit Michael Mann oder Walter Hill eingeladen hat. Beide standen Pate für Nicolas Winding Refn, den Regisseur der Pusher-Trilogie, als es darum ging, die Geschichte eines Renn- und Stuntfahrers zu erzählen. Der Driver (Ryan Gosling) gerät unerwartet in einen kriminellen Strudel, weil er die neue Nachbarin (Carey Mulligan) toll findet. Als ihr Mann aus dem Gefängnis entlassen und zu einem weiteren Coup gezwungen wird, hilft unser wortkarger Held aus. Nur um festzustellen, wie mies es um die Moral des Mobs bestellt ist. Aber der Driver ist härter als seine Gegner. Der Film klingt nach einer idealen Mischung aus Thief (Mann) und Driver (Hill), aber irgendwann kommt er vom Weg ab und begeht Fehler, die nur Amateure unterlaufen. Schade um die tollen Ansätze. ΩΘ

This Must Be The Place

(Paolo Sorrentino; Wettbewerb)
Die ersten Momente sind furchteinflößend, die Erinnerung an I Am Sam kommt sofort wieder hoch. Der Gang gebeugt, das geschminkte Gesicht oft verdeckt von den Strähnen einer wüsten, tiefschwarzen Perücke, zieht Sean Penn mit hoher Stimme durch die ersten Szenen dieses Films, als werde er die Geschichte dominieren. Das passiert dann auch – aber wesentlich weniger penetrant als man glauben könnte. Paolo Sorrentino verlässt Dublin, wo Penn als ehemaliger Poprockstar seinen ehemaligen Starstatus pflegt, und bricht mit seinem Star zu einer Entdeckungsreise nach Amerika auf, geschickt untermalt von Songs vom Talking-Heads-Kopf David Byrne, an dem man wegen True Stories (1986) ohnehin denken muss. Nicht alles in This Must Be The Place ist wirklich gelungen, aber es ist schwer, sich dem Sog der Ereignisse zu entziehen. Ein echt seltsamer Film.

Hwanghae
(Der Mörder/Yellow Sea; Hong-jin Na; Un Certain Regard)
Der wildeste Film, den ich in Cannes gesehen habe: brutal, wüst, hemmungslos. Dem Regisseur Hong-jin Na gelingt es mühelos, seinen vergangenen Film, den kruden Polizei-Thriller The Chaser, in jeder Hinsicht zu überbieten. Ein verzweifelter, versoffener, hoch verschuldeter und offenbar von seiner Frau verlassener Taxifahrer erhält von einem proletigen Mobboss den Auftrag, im Niemandsland zwischen Süd- und Nordkorea sowie China einen Mann umzubringen. Der Mann stirbt, wenn auch nicht annähernd so wie geplant, und von jenem Moment an wird unser Held Gu-nam gejagt: von der Polizei sowie von zwei konkurrierenden Gangstergruppen, die sich irgendwann gegenseitig mit langen scharfen Messern und Beilen traktieren. Der schluffe Loser Gu-nam entwickelt dabei Nehmer- und Steherqualitäten, die an Bruce Willis in seinen besten Tagen erinnern.
Der Film läuft in einer Nebensektion, für die auch Eintrittskarten für die Bewohner von Cannes verlost werden. Ich sitze in einer Reihe mit zehn etwa 16-jährigen Schülerinnen, die merklich begeistert sind, dass sie in diesen Film durften. Aber die Gewalt des Films holt sie bald ein, und vor lauter Blut, herumfliegenden Fingern und anderen Körperteilen verbringen sie in der abschließenden Stunde die meiste Zeit damit, die Händen vor die eigenen Augen zu legen. *

Bir Zamanlar Anadolu'da
(Es war einmal in Anatolien; Nuri Bilge Ceylan; Wettbewerb)
Gegen Ende eines Festivals wird es für die Filme immer schwieriger. Das hat weniger mit einem Aufmerksamkeitsdefizit zu tun als mit einem Ungeduldssyndrom, das es nach zehn Tagen von Filmen verlangt, schnell zur Sache zu kommen. Insofern ist Bir Zamanlar Anadolu’da verheerend terminiert. Denn wie alle Filme von Nuri Bilge Ceylan (Jahreszeiten) lässt sich auch dieser unendlich viel Zeit, fast 160 Minuten sind angekündigt. Auf drei Autos verteilt, fahren Polizisten, Mordverdächtige, ein Arzt und ein Staatsanwalt durch die Nacht, auf der Suche nach jener Stelle, an der eine Leiche vergraben wurde. Eine Stunde lang findet die suchende Gruppe nichts. Dann legt sie eine Pause von einer halben Filmstunde ein. Als man dann am Morgen danach weitersucht, sagt der Täter endlich mit großer Bestimmtheit: "Hier ist es!" Und zur Erleichterung (fast) aller im Saal klatscht ein Zuschauer im Saal. Danach nimmt der Film seinen alten Trott wieder auf.
Die ganze Zeit überlege ich, was die Coen-Brüder aus diesem Stoff gemacht hätten. Sie mögen die Filme von Nuri Bilge Ceylan übrigens sehr. Immer noch unvergessen ist ihr Kurzfilm World Cinema“, in dem Josh Brolin als herber Cowboy in Jahreszeiten geht. #Ω

La Source Des Femmes

(Die Quelle der Frauen; Radu Mihaileanu; Wettbewerb)
Und dann stehen dem Kino auch profane Dinge im Weg: Koffer packen, Apartment aufräumen, den Kühlschrank etwas leerer essen. Nur im Ausnahmefall könnte ich La Source Des Femmes zu Ende sehen. Der Fall tritt fast ein. Die Geschichte handelt von einem kleinen islamischen Dorf, in dem die Frauen einen Sexstreik beginnen, weil die Männer sich weigern, ihnen bei der täglichen Arbeit zur Hand zu gehen. Die Botschaft ist absehbar, aber die Umsetzung bewegend. Fast widerwillig mache ich mich aus dem Staub. Aber andererseits: Was kann zum Abschluss eines Festivals schöner sein als das Gefühl, einen Film unbedingt noch zu Ende sehen zu müssen? #

#: vorzeitig verlassen
*: zum Teil verschlafen
Ω: Ein Film, der bestimmt Michael Althen gefallen hätte
Θ: Ein Film, den uns Hans Schifferle (noch besser) erklären muss

Robert De Niro und seine Jury haben ihre Preise vergeben. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die Gewinner so geheißen:

Goldene Palme: Polisse (Maïwenn)
Großer Preis:Le Gamin Au Vélo (Jean-Pierre & Luc Dardenne)
Regie: Terrence Malick (The Tree Of Life) [Im Grunde müsste aber auch dieser Preis an Maïwenn gehen]
Darsteller: Jean Dujardin (The Artist)
Darstellerin: Tilda Swinton (We Have To Talk About Kevin)
Sonderpreis für das Ensemble in Polisse
Drehbuch: La Piel Que Habito (Pedro Almodóvar)
Preis der Jury: Melancholia (Lars von Trier)

Simpler geordnet: die Top 7 des Festivals.
Polisse (Maïwenn)
Midnight In Paris (Woody Allen)
Le Gamin Au Vélo (Jean-Pierre & Luc Dardenne)
La Piel Que Habito (Pedro Almodóvar)
L’Exercice De L’État (Pierre Schoeller)
The Artist (Michel Hazanavicius)
La Source Des Femmes (Radu Mihaileanu)

Das war also die 64. Ausgabe des Filmfestivals von Cannes, ein eher überdurchschnittlicher Jahrgang. "Will you still need me / will you still feed me / when I’m sixty-four?" fragten einst die Beatles. Keine Frage. Wir brauchen es immer noch – und es füttert uns immer noch mit unvergesslichen Momenten und Filmen.