(Maïwenn Le Besco von Polisse auf dem roten Teppich)
Manche Dinge passieren einem während der Filmfestspiele von Cannes alljährlich mehrmals; zum Beispiel dass man von französischen Ordnern und/oder Obern wie debiles Kleinvieh behandelt wird, für das sogar Rindertreiber zu gut wären. Manches dagegen passiert so gut wie nie. Vor exakt einem Vierteljahrhundert hatte ich mir zuletzt einen Film gleich zweimal an einem Tag angesehen. Wer macht so etwas schon noch? Doch dann kam Polisse.
Wie so oft in solchen Fällen waren die Erwartungen vorher nicht übermächtig. Es war zu hören gewesen, dass der Film vom Alltag einer Pariser Jugendschutzbrigade handele und vermutlich nur deshalb im Wettbewerb gelandet sei, weil die Regisseurin Maïwenn einst mit dem mächtigen Filmschaffenden Luc Besson (Nikita, Das fünfte Element) liiert war, hübsch ist und ein paar bekannte französische Gesichter versammeln konnte. Das Gerücht, dies sei ein Werk vom Regisseur, der „den Film mit den Wassermelonen“ gedreht habe, konnte vorab aus der Welt geschafft werden, schließlich ist Luc Besson weder schwul noch mit einem Mann verheiratet, und den Melonenfilm The Wayward Cloud hat Tsai Ming-Liang inszeniert.
Was sich erst bei der Ansicht von Polisse als Ente herausstellte, war die Vorab-Klassifizierung, es handele sich um eine Sozialsatire. Hier werden Zustände nicht ironisch überspitzt, niemand erhebt sich über andere oder belustigt sich auf Kosten anderer, weil er es besser weiß. Die Geschichte spielt dort in Paris, wo es zumeist ungemütlich ist: wo Pädophile sich an (ihren) Kindern vergreifen und Frauen ihre Söhne bei der Polizei abgeben wollen, weil sie sie nicht mehr ernähren oder von der Straße weghalten können; diese Welt wird bevölkert von Männern, die ihre minderjährigen Verwandten zu Straftaten nötigen und von drogenabhängigen Müttern, die ihre Babys entführen.
Klingt zunächst nach einer Menge Klischees, aber der Film – quasi ein ultrarealistisches Gegenstück zu Woody Allens verträumtem Eröffnungsfilm Midnight in Paris – stürzt sich ungeschützt und voll auf Augenhöhe mit den Protagonisten in den Alltag. Polisse komprimiert das, was andere in eine komplette Staffel einer TV-Serie à la The Wire oder The Shield packen würden, auf etwas über zwei Stunden. Und als wäre diese Leistung nicht hoch genug einzuschätzen, gelingt es der gelernten Schauspielerin Maïwenn, jedem aus ihrem gut ein Dutzend Charaktere umfassenden Personal eigenständige Merkmale zu verleihen, die jeder Episode Tiefe verleihen.
Im ersten Moment könnte man glauben, dies sei eine lose aneinandergereihte Sammlung brillanter Szenen. Aber Polisse ist weit mehr als das. Als wir den Film verließen – aufgerüttelt, animiert, hungrig –, brachen wir zu fünft auf zu einem Abendessen in Gedenken an den am Vormittag verstorbenen Autor und Freund Michael Althen. Dort erzählten wir dem Kollegen Kniebe, der nicht ins Kino hatte gehen können, von dem Film und wie gut er Michael Althen wahrscheinlich gefallen hätte. Althen liebte ja unter anderem französische Filme, aufregende Frauen, Autorenwerke und Action – und Polisse hat all das im Überfluss zu bieten. Wir erzählten einzelne Szenen nach und begeisterten uns, unisono wie selten, über die Härte, den Witz, die Schärfe, die oft schockierenden Details und die pointierten Dialoge.
Wir erzählten: von der redseligen Ermittlerin im Team (Karin Viard), die mitten während des Scheidungstermins zu ihrem untreuen Mann geht, sich vorbeugt und einmal tief in seinem Nacken einatmet; wie eine Pariserin ganz erstaunt reagiert, als man ihr erklärt, dass es sexueller Missbrauch ist, wenn man dem einjährigen Sohn einen runterholt, damit er Ruhe gibt; wie der Intellektuelle der Brigade kurz mal so redet wie die Leute um ihn herum; wie die Muslimin des Ermittlungsteams einen engstirnigen Landsmann anbrüllt, er möge ihr die Stellen im Koran zeigen, an denen die Unterdrückung der Frauen verlangt werde; wie die junge Frau (Maïwenn), die den Alltag der Brigade in einer Reihe von Fotos festhalten soll, einmal am Schießstand zwei Schüsse abgeben darf und danach so angespannt ist, dass sie die Waffe kaum mehr loslassen kann; wie ein reicher Geschäftsmann all seine perversen Phantasien und Taten offenbart, weil er weiß, dass er unantastbar ist; wie zwei langjährige Kolleginnen all jene über Jahre aufgestauten Sachen rausschreien; wie eine Schülerin erzählt, man habe ihr das Handy nur unter der Bedingung zurückgegeben, dass sie drei Jungs einen blasen würde – und auf die entgeistert-belustigten Bemerkungen erwidert: "Aber es war ein Smartphone!"
Während wir all das erzählten, reifte der Entschluss, den Film in der späten Wiederholung noch einmal anzugucken. Und siehe da: Erst beim zweiten Mal fiel richtig auf, wie konzentriert und genau abgestimmt die scheinbar lose Szenenfolge war.
Polisse wird hoffentlich bald auch in deutschen Kinos für Diskussionsstoff sorgen. In Cannes hat er mehr als entschädigt für all die Enttäuschungen, die sich nach dem schönen Eröffnungsfilm aufgetürmt hatten: We Need to talk about Kevin mit Tilda Swinton, eine überambitioniert zersplitterte "Warum ist mein Sohn ein Amokläufer?“-Geschichte, die leider eher wie "Das Omen, Teil 7“ funktionierte; "Habemus Papam“, Nanni Morettis zahmer Papstfilm, der höchstens verbohrte Katholiken schockieren dürfte und für alle anderen halbwegs normalen Menschen gnadenlos ins Leere läuft; und nicht zuletzt Gus van Sants Teenager-Krebs-Romanze Restless, die trotz der Hauptdarstellerin Mia Wasikowska (The Kids Are All Right) mehr wie Patch Adams 2 wirkte – und uns am diesem Tag besonders unpassend vorkam.
Michael Althen hätte wahrscheinlich trotzdem ein paar nette Worte für Gus van Sant und Tilda Swinton gefunden. Deshalb: Nichts Schlechtes über tote Filme, sondern nur Entzückung über Polisse.