So sah er aus, der Schauplatz der kommenden zwei Stunden: ein langer Tisch, darauf ein Meer von Kerzen, Stielgläsern, Gabeln, Leinen, Salzstreuern, Dessertlöffeln und kleinen Blumenvasen. Und kein einziger Aschenbecher.
Auf dem sauber gefalzten Tischkärtchen neben mir stand der Name eines weit über seine Kreise hinweg bewunderten Schriftstellers, der soeben an den Tisch trat und dabei so verantwortungsvoll nach seiner Stuhllehne griff wie ein Kapitän nach seinem Steuerrad. Er nickte in die Runde, wandte sich mit einer kleinen Verbeugung zu mir, wobei er mit den Schultern zuckte, so als wolle er sagen: Ja – ich bin es tatsächlich, ich kann nichts dafür… Eine fast zu demonstrative Geste der Bescheidenheit, die gern angewandt wird von Menschen, die wissen, dass das Nennen ihres Namens nicht einfach das Nennen ihres Namens ist, sondern der Startschuss für alle angeregten Diskussionen und kommenden Lobhudeleien. So wie es eben auch dieser Schriftsteller wusste.
»Guten Abend, Mister Schriftsteller, na, das ist aber eine Ehre! Wissen Sie, dass ich Ihr letztes Buch gewissermaßen auswendig gelernt habe? Für welches haben Sie eigentlich damals den Booker Prize bekommen? Sie haben den Booker Prize – noch nie bekommen?! Der Literaturbetrieb besteht offenbar nur aus Stümpern und Neidern…«
Das alles sagte ich nicht.
Stattdessen sagte ich: »Guten Abend, Mister Schriftsteller! Ich sehe, es wird nicht leicht sein, hier unbemerkt ein Kaugummi loszuwerden…«
Dies war ja recht vertraulich. Als Begrüßung vielleicht auch etwas unappetitlich. Aber nicht zu unappetitlich. Außerdem: Der Mann war, wie ja jeder am Tisch und im Rest der Welt wusste, Engländer. Und wenn sich jemand über Unappetitlichkeiten wie ein Kind freuen kann, dann doch bitte ein erwachsener Engländer.
Dieser hier nicht. Er starrte mich missbilligend an, machte eine undefinierbare Mahlbewegung mit dem Unterkiefer und rückte beim Hinsetzen seinen Stuhl demonstrativ zur anderen Seite. Wo sich auch bereits eine blonder Haarturm nach vorn neigte, der von einer bettelnden Hand überholt wurde, die voller Andacht – ja, er war es wirklich! – Mister Weltliteraturs Ärmel zu tätscheln begann. Haar und Hand waren an einer blonden Fernsehmoderatorin befestigt. Die die darauffolgenden Stunden ungelogen durchnickte und abwechselnd
1) Ja! Ja! GENAU so IST es!
2) Das war aber mutig von Ihnen!
oder 3) Oh, und das sagt selbst ein so berühmter Mann wie Sie..? einwarf.
Kein Problem, dachte ich zunächst und wandte mich nach links, wo sich in den letzten Minuten eine Art Vorhof zur Langeweile-Hölle gebildet hatte: ein paar alte Internats- oder Studienfreunde, die begeistert Anekdoten aufwärmten.
Nach zehn Minuten intensiven Studiums der Menükarte und nach weiteren sieben Minuten Reiskörner-im-Salzfass-Zählens wollte ich verzweifeln. Dann, vor lauter Gedemütigtsein, ein bisschen weinen. Ich starrte den Rücken des schlechtesten Tischherrn aller Zeiten an, studierte sein Profil, die unvorteilhafte Schulterpartie seines Anzugs, seine Sitzhaltung, die so trübselig war wie ein Morrissey-Song, seine zu Berge stehende Frisur und das Mädchenkinn. Ohne Reaktion.
Als der erste Gang kam, war ich einfach nur noch mürbe. Ich dachte: Was soll's – vielleicht kann ich den Deppen ja noch mal in einer Geschichte unterbringen.
Ach, übrigens: Kein schlechtes Wort gegen die blonde Fernsehmoderatorin. Es ist nichts einzuwenden gegen Ja!Ja!Ja!-Ruferinnen. Gequält von zu vielen Abendessenunterhaltungen mit Fremden geht jeder dann und wann den Weg des geringsten Widerstandes. Und der verläuft manchmal am geschmeidigsten durch Schmeicheleien. Leider funktionieren diese allerdings auch wie Dünger, der die langweiligsten Gewächse der Welt in die Höhe schießen lässt: Tischherren, die sich der Pflicht entbunden fühlen, irgendetwas Originelles, Dialogisches sagen zu müssen.
Das Problem ist: Sehr viele Männer sind so, und die erfolgreichen, glücklich verheirateten Familienväter, sagen wir mal: ab Anfang, Mitte vierzig sind die allerschlimmsten. Ihr Selbstbewusstsein hat stetig zugenommen, umgekehrt proportional verhält es sich mit ihren Entertainer-Qualitäten. Die meisten dieser Männer wollen keinen Small Talk führen, das Wort allein widerspricht ihrer Auffassung von dem, was sie bereits geleistet und der Welt noch mitzuteilen haben; es ist nicht small. Es ist bedeutend.
»Knapp« berichten sie über sämtliche Erfolge, empört über ihre Wahrnehmung der Weltlage, ironisch über ihre Kinder, andächtig über ihre Frauen. Besonders gern aber reden sie über Politik und Wirtschaft. Politik und Wirtschaft sind spannende Themen, aber nicht so, wie diese Männer beim Abendessen darüber reden: monologisch, subjektiv und spätestens ab dem zweiten Gang gemütlich dahinapokalypsierend: In zwanzig Jahren wird es hier in Deutschland düster aussehen… die Deutsche Bank müsste in dieser Situation endlich… der CDU fehlt ein starker… die Deutschen verstehen einfach nicht, dass, wenn sie jetzt nicht gemeinsam mit Amerika und Frankreich…
Klang das denn alles nicht mal anders? Rasanter? Attraktiver? Schwieriger? Unvorhergesehener? Woher kommen rechts und links plötzlich so viele einflussreiche soziale Autisten?
Die Psychologen sagen: Die Männer, die heute vierzig sind, sind in den leistungsorientierten Achtzigerjahren sozialisiert worden. Sie können gar nicht anders, als sich über ihre Erfolge zu definieren.
Die Linguisten sagen: Es sind die unterschiedlichen Ansprüche an eine Konversation. Männer wollen sich bei einer Konversation entspannen, Frauen wollen sich amüsieren.
Die Soziologen sagen: Es sind die unterschiedlichen Ziele. Während Frauen im Gespräch eine persönliche Beziehung herstellen und erhalten wollen, wollen Männer ihren Status zementieren.
Und die Männer selbst sagen: Wir waren niemals anders. Wir waren niemals interessanter, wir haben nur so getan in den Jahren, in denen wir auf Brautschau waren.
Viele Begründungen, alle lahm. Denn: Was ist mit den vielen erfolgreichen, über vierzigjährigen Männern, denen Frauen sexuell egal sind? Sie sind oft brillante Tischnachbarn. Genau wie über vierzigjährige Frauen, die ebenfalls nicht nach anderen Bräuten Ausschau halten. Was will man denn eigentlich von einem Mann wissen, der glücklich verheiratet ist und erfolgreich im Beruf? Die bessere Frage ist: Was will man nicht hören?
Ein in diesem Zusammenhang gerade von gut aussehenden Erfolgsmännern überstrapaziertes Stilmittel ist die Satzeinleitung »Meine Frau findet…«
Ach, herrje. Also, was findet denn die Frau so?
»Sie findet, ich sollte sechs Kilo abnehmen…« »Ich sollte mal wieder ganz weit wegfahren mit ihr, nicht immer nur blablah in blablablah wo wir mit den Großeltern blahblahblah…«
Das »Meine Frau findet« dient nur einem einzigen Zweck: Man soll protestieren. Sich gegen die Ehefrau solidarisieren, ihn von allen Verdachtsmomenten freisprechen, alle ihre Vorwürfe entkräften, ihn beruhigen, ihm schmeicheln, bestätigen: »Aber was! Sie brauchen sich doch keine Sorgen um Ihre Figur zu machen!« Nur damit er am Ende sagt: »Ach, meine Frau hat leider fast in allem recht…«
Ach, es ist so öde.
Noch mal um einiges langweiliger sind die Erlebnisse »der Kinder«. Es sind Kinder, sie sind in der Regel klein, sie sind nur bedeutend für ihre kleinen Kinderfreunde und für ihre Eltern. An das, was sie gestern erlebt haben, erinnern sie sich morgen selbst nicht mehr. Warum sollte es eine fremde Tischdame interessieren? Und würden ihn andersherum ihre Kinder oder noch besser: Freundinnen interessieren? Ganz sicher nicht. Fakt ist: Männer, gerade solche, die in jungen Jahren viel erreicht haben, die in ihren Jobs von früh bis spät reden, entscheiden, bestimmen müssen, hören abends am liebsten undifferenzierten Klatsch über die anderen Anwesenden – schon weil sie im Vergleich so gut abschneiden.
Dabei könnte alles für sie so einfach sein, wenn sich nur endlich eine Erkenntnis durchsetzen würde: Es geht an solchen Tischen nicht um den Transfer von Informationen, nicht um den Wettbewerb, wer was in wie viel Zeit erreicht hat, nicht um das Sichern der eigenen Position. Es geht darum, sich sprachlich und gedanklich zu engagieren, für einen anderen, und das höchstwahrscheinlich ohne sexuellen oder finanziellen Nutzen. Es geht darum, mal wieder über das Nicht-Leben zu grinsen, das viele von uns den Rest des Tages führen. Und es geht darum, gemeinsam eine tröstliche Erkenntnis zu erneuern: wie albern gesellschaftliche Zwänge sind und wie sinnstiftend zugleich.
Bestenfalls ist es gar nicht so schlimm, sondern eher wie ein sonntäglicher Besuch zu Hause an einem Novembernachmittag: vorher grauenhaft, mittendrin ermüdend, kurz vor Schluss geradezu euphorisierend.
Trotzdem: Wer die Möglichkeit hat, sich an so einem langen Tisch selber einen Platz auszusuchen, sollte eine weise Wahl treffen: Die idealen Sitznachbarn sind, ganz ehrlich, die sogenannten Loser und die Männer um die siebzig. Die haben, noch und wieder, einen Heidenspaß auf Gesellschaften, sie stehen unter keinerlei Statusdruck, sie haben nichts zu verlieren. Und sie wissen, dass man sich amüsieren sollte, solange noch Zeit ist.