Vor dreißig Jahren gab es noch kein Waldsterben. Die Bäume wuchsen, wuchsen hoch und höher, fielen einfach um im Sturm oder wurden gefällt, wenn die Zeit gekommen war. Aber so einfach ist das nicht: Ob tot, lebendig oder sterbend, der Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume, der Wald ist vor allem deutsch. Er greift einem selbst dann noch ans Herz, wo er zum Naherholungsgebiet, zur »grünen Lunge«, zur Wiederaufforstungsmaßnahme denaturiert ist. Er rührt an Gemütstiefen, von denen allenfalls die Dichter zu singen und zu sagen wissen. Der Wald, der deutsche, macht noch den verstocktesten Heiden fromm: Die Bäume sind wie die Säulen einer gotischen Kathedrale, die Wipfel neigen sich einander zu und bilden das hohe Dach, unter dem sich wunderbar beschirmt einherschreiten lässt.
Kein Wunder, dass der Wald gern mit rhetorischen Fragen behelligt wird: »Wer hat dich, du schöner Wald, / Aufgebaut so hoch da droben?«, rätselte einst der romantische Joseph von Eichendorff. Doch ganz gleich, was der Dichter an schönsten Versen in den Wald hineinruft, es schallt nur sachbearbeitende Prosa zurück: Einschlagmenge, Festmeter, Kohlenstoffsenke, die Nachhaltigkeit, ohne die heute, scheint’s, nichts mehr geht. Ja, aber was ist denn nun mit dem Wald, schwarz, wie er in einem andren Liede steht, schwarz und schweigend: Kunst oder Natur? Das Bundeswaldgesetz (BwaldG) macht es sich einfach. Nach Paragraf 2 Absatz (1) ist »Wald im Sinne dieses Gesetzes jede mit Forstpflanzen bestockte Grundfläche. Als Wald gelten auch kahl geschlagene oder verlichtete Grundflächen, Waldwege, Waldeinteilungs- und Sicherungsstreifen, Waldblößen und Lichtungen, Waldwiesen, Wildäsungsplätze, Holzlagerplätze sowie weitere mit dem Wald verbundene und ihm dienende Flächen.« Mancher sieht eben vor lauter Bäumen nur noch Wald.
Bürgermeister Johann Riedl ist Waldbesitzer. Vor dreißig Jahren, als die Rote Armee Fraktion (RAF) den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführte und versuchte, mit dieser Geisel den Staat zu erpressen, als dann auch noch die Landshut entführt und in Mogadischu befreit wurde, als die Gefangenen in Stammheim sich umbrachten und die draußen dafür Schleyer ermordeten, legte Riedl in Moosach bei München einen Wald an. Dieser Wald, er trägt den Namen »Hofholz«, ist etwa dreitausend Quad-ratmeter groß, ein knappes Tagwerk nach alter Rechnung oder ein Drittelhektar, nicht viel. Riedl brauchte damals Bauholz, schlug und sägte, was sein musste, und pflanzte dann wieder an, wie es das »ungeschriebene Gesetz« der Waldwirtschaft befiehlt.
Was dem einen erhabene Natur ist und Anlass zum Schwärmen, das ist für den anderen schlicht eine Erwerbsquelle. Zwanzig Festmeter pro Hektar und Jahr gilt als durchschnittlicher Ertrag bei der Fichte, das sind nach dem aktuellen Marktpreis drei- bis zehntausend Euro pro Jahr. Wer aber vom Wald leben wollte und nur dies Wäldchen hätte, wäre arm dran. Seine hundert Hektar bräuchte ein Waldbesitzer wenigstens und dürfte keine Hilfskräfte beschäftigen, sondern müsste alles allein machen: aussuchen, schlagen, schälen, mit eigenen Maschinen bis ins Sägewerk fahren.
Riedls Wäldchen färbt sich gelb und braun und rot, und am Boden sammelt sich Naturabfall. Was an Nadeln, Blättern, Ästen und Zweigen herunterfällt, was sich an Moos und Gesträuch erhebt, bleibt liegen, wird Mulch oder Humus und nährt die Bäume, die ganz weit oben ums Licht konkurrieren und immer größer werden dabei. »Wer das so könnte wie der Wald!«, staunte seinerzeit Ludwig Ganghofer, dem er doch als Jäger ein täglicher Umgang war.
Das »Hofholz« leuchtet so herbstbunt, weil es ganz anders ist als die strammfichtene Umgebung, eine Enklave im Wald, ein Ausnahmewerk, weil der Besitzer schon vor dreißig Jahren mehr als den schnellen Nutzwert im Sinn hatte, den raschen Einschlag, mehr also als die üblichen, kerzengerade gewachsenen Nadelbäume über einem wie mit dem Handbesen ausgefegten Boden. Riedl ist der Wald so nah wie ein Mensch. Er vergleicht damit auch das Wachsen und Vergehen im Wald: »Die alten Leute sterben und dann kommen wieder junge nach.«
In den letzten dreißig Jahren löste Helmut Kohl Helmut Schmidt als Kanzler ab, brach der Ostblock zusammen und kam die Wiedervereinigung, stürzte das World Trade Center ein und die New Economy, wurde Deutschland Fußballweltmeister und Angela Merkel Bundeskanzlerin. Das »Hofholz« ist seither ungerührt gewachsen, sehr langsam, aber so stetig, wie es sich der Besit-zer nur wünschen kann. Nasse Winter und trockene Sommer hat es überstanden, »Wiebke« ist durchgegangen und manch andrer Sturm wird noch kommen und es verschonen oder auch nicht. Waldwirtschaft ist vor allem unwirtschaftlich: Selbst die rasch wachsende Fichte, nach wie vor der »Brotbaum« in Deutschland, hat eine Umschlaggeschwindigkeit von annähernd hundert Jahren. Wer heute pflanzt, forstet den Wald der Großvätergeneration auf und denkt über die eigenen Kinder hinaus an die Enkel.
Johann Riedl, nun sechzig Jahre alt, dachte vor dreißig Jahren nicht an Schleyer und die Entführung der Landshut, sondern an seine Kinder und Enkel und wusste überdies, dass Artenreichtum »weniger Risiko« birgt. So pflanzte er auf seinem Grundstück neben der Fichte Ahorn, Douglasie, Buche und Eiche. Laubbäume sind Tiefwurzler und erleichtern den grabfaulen Fichten, sich ebenfalls tiefer einzuwurzeln, was den Stamm dann stabiler und im Wind widerständiger macht.
Der Forstamtmann Helmut Knauer nennt Riedl einen »Idealisten«, der schon vor dreißig Jahren wusste, wie wenig die Monokultur bringt. Die Sorge um den Wald, den hochgebauten, hat die bayrische Staatsregierung übernommen, vertreten durch das Amt für Landwirtschaft und Forsten und im Landkreis Ebersberg eben durch Forstamtsrat Knauer. Denn der Wald gehört dem Waldbesitzer gar nicht allein, jedenfalls nicht in Bayern. Wald gehört in Bayern allen. In Art. 141 (1) der Bayerischen Verfassung wird zu den besonderen Aufgaben des Staates gerechnet, dass er »den Wald wegen seiner besonderen Bedeutung für den Naturhaushalt zu schützen« habe. Selbst das »Betreten von Wald und Bergweide« wird ausdrücklich jedermann als Grundrecht zugestanden.
Der 51-jährige Forstamtmann schwärmt vom Wald wie ein romantischer Dichter, aber einer, dem die Kosten-Nutzen-Analyse geläufig ist und der sich auch in der Dendrologie, der Baumlehre, umgetan hat. Mit wenigen Worten erläutert er die Besonderheiten der Endmoränenlandschaft südöstlich von München und kann auch die Stellen zeigen, wo der Boden noch von den letzten Gletschern her durch »Toteiskessel komprimiert« worden ist. Heute drohen dem Wald Komprimierungen durch seine ungebrochene Beliebtheit. Knauer bezeichnet sich selber als die »graue Eminenz«, berät die Waldbesitzer, sorgt für Qualitätsmanagement und am Ende für einen wirtschaftlichen Wald, der auch gesund ist und weiterwächst und noch den folgenden Generationen Ertrag bringt. Kahlschläge sollen vermieden werden; sie schaden nicht nur dem eigenen, sondern auch dem Boden beim Nachbarn. Wenn einer auf einen schnellen Umschlag aus ist und alles weghauen will, kann ihm Knauer vorrechnen, dass maßvolles Fällen über die Jahre mehr Rendite bringt als der schnelle Gesamtverkauf: »Kahlschlag rechnet sich nicht.«
Etwa ein Drittel Deutschlands ist von Wald bedeckt, und trotz Autobahnausbau, Bausparkassensiedlungen, Bodenversiegelung und Pendlerpauschale ist der Wald über die letzten Jahre nicht weniger geworden. Auch dafür sorgt das Bundeswaldgesetz: Der Hiebsatz darf den Zuwachs nicht überschreiten. Nur romantisch war er nie, der deutsche Wald, auch wenn die Räuber drin wohnten und Fuchs und Hase sich dort vertraulich gute Nacht sagten. In der heutigen Form entstand er erst im 19. Jahrhundert und ist, ja, Menschenwerk, schlimmer noch, das Werk von Menschen, die keine Zeit hatten, über den Wald groß zu meditieren, sondern sich an ihm schlicht bereichern wollten. Auch deshalb schwärmt Knauer von Riedls »Hofholz«, ein Schmuckstück für ihn: weil es beides ist, ökologisch sinnvoll und trotzdem wirtschaftlich. Er hält Waldpflegevorträge in Kindergärten und Schulen, unternimmt Exkursionen für Interessierte, setzt sich mit den Besitzern, mit den Jägern zusammen, vermittelt, berät, berechnet. Nie würde er schlecht von der Fichte reden, und wenn sie noch so sichtbar das erste Opfer eines Windbruchs wird. Immerhin liefert sie ein vielseitig verwendbares Holz. Sie bestückt den Wirtschaftswald, und der wirtschaftlichste, der nutzholzigste Wald ist nun einmal der monokulturelle Fichtenwald.
Um das Waldsterben ist es in den letzten Jahren merkwürdig still geworden. Der saure Regen fällt wohl weiter, aber nicht mehr jeglichen Tag. Der Wald stirbt trotzdem, doch war das schon immer so. Nicht der saure Regen gefährdet ihn, sondern der warme Sommer. Tropentage wie zuletzt 2003 bringen ihn um. Gerade
bei der Fichte gibt es extreme Ausfälle, bei Nürnberg stehen demnächst keine Altfichten mehr. Der Boden trocknet aus und dann der Baum, der grobringig wird und spleißig und im Preis verfällt. Nur dem wechselwarmen Borkenkäfer ist wohl im trocknen Wald. Seit 2003 befindet sich »der Wald käfermäßig an der Obergrenze«, sagt Knauer. Die Gesundheit der Bäume erkennt er beim Blick in die Krone. Er klopft gegen den Stamm, um ihn abzuhorchen, schaut, ob er vielleicht »rotfaul« wird. Mit der Hand fasst er in den Boden am Fuß einer Fichte in der angrenzenden Monokultur: keine Insekten, keine Würmer, »es müsste eigentlich wimmeln«, aber die Erdkrume ist leer.
Der Dichter Eichendorff, deutsch natürlich, dass es deutscher nicht mehr geht, mochte den Blick lieber nicht von den Wipfeln oben wenden: »Was wir still gelobt im Wald, / Wollen’s draußen ehrlich halten. / Ewig bleiben treu die Alten: / Deutsch Panier, das rauschend wallt, / Lebe wohl, / Schirm dich Gott, du schöner Wald.« Der Waldhüter Helmut Knauer formuliert es nur unwesentlich anders: »Waldbesitz«, sagt Knauer, »ist der einzige Generationenvertrag, der funktioniert.«