Schmid fragt, ob sie sich schon entschieden hätten. Ob sie die beiden großen Hunde behalten möchten oder das Kind. Noch haben sie nur eines, drei weitere werden bald folgen. Es ist keine ironische Frage. Lorenz Schmid vom sozialpädagogischen Dienst, Jugendamt Regensburg, meint es ernst. Klaus Gruber wohnt mit seiner Freundin damals in einer Einzimmernotwohnung mit Bad im Keller. Sie haben diese zwei riesigen Mischlingshunde, die überall sein dürfen, und ein Neugeborenes, das irgendwo dazwischen liegt. Gruber antwortet knallhart: »Die Hunde waren zuerst da!« Aber vielleicht ist es nur eine Provokation, denn Schmid geht ihm ziemlich auf den Wecker. Das ganze Jugendamt eigentlich. Und all die Leute, die sie ihnen ständig schicken.
Diese Familienhelferin zum Beispiel. Dringt einfach so in ihr Leben ein und will ihnen dann auch noch erzählen, was sie alles falsch machen. Das Jugendamt verfolgt Klaus Gruber schon sein ganzes Leben. Als er zwei Jahre ist, sterben seine Eltern, die Pflegefamilie ist mit ihm überfordert, mit 15 schmeißen sie ihn raus, er kommt in eine Jugendwohngruppe und steht unter Vormundschaft des Jugendamtes. Und nun, 25 Jahre später, schickt ihm der Herr Schmid mit seinem Dreitagebart diese Frau Gschlößl, die er am liebsten von hinten sieht. Er hasst sie und das, wofür sie steht. Schaltet auf Durchzug, wenn sie redet, schon aus Prinzip: »Ins eine Ohr rein, beim anderen wieder raus«, das ist seine Strategie im Umgang mit ihr. Soll sie ruhig klug daherreden. Meist geht er sowieso aus dem Zimmer, wenn sie kommt.
Je mehr Kinder er hat, desto mehr will sie von ihm: Die Wohnung muss aufgeräumt sein, die Kleidung gewaschen, im Kühlschrank vernünftiges Essen für die Kinder, der Müll darf nicht am Boden liegen! Und wo sie die Kinder überall hinbringen müssen: Keinen Tag haben sie Ruhe, Logopädie, Heilpädagogik, Ergotherapie, da kann man ja kaum die Namen aussprechen. Wie anmaßend sie ihm erscheint. Und welchen Druck sie ausübt. »Ihr macht das, oder ich sage es dem Jugendamt!« Andererseits: Wenn sie nichts sagt, machen sie auch nichts. Das muss sogar er zugeben.
Es ist so eine Sache mit den Jugendämtern. Eigentlich können sie tun, was sie wollen, sie sind immer schuld. Wenn sie helfen, bekommen sie Dresche, sollten sie es versäumen, erst recht. In Grubers alter Wohnung ist, nachdem eine andere Familie eingezogen war, vor einiger Zeit ein Kind unglücklich aus dem Fenster gefallen. Erdgeschoss, aber direkt auf eine Stange. Genickbruch. »Versäumnisse beim Jugendamt«, hieß es anschließend in der Lokalpresse. »Aber was hätten wir denn tun sollen?«, fragt Lorenz Schmid und schaut über seine randlose Brille. Sie sind ja schließlich kein 24-Stunden-Wachdienst. Soll man bei problematischen Familien die Balkons abreißen, die Fenster zunageln? Die Badewannen rausreißen und das Küchenbesteck vernichten? Dass es in der Öffentlichkeit oft so dargestellt wird, als ob sie ständig nur in der Gegend rumfahren und sich überlegen, welche Kinder man aufsammeln könnte, findet Schmid nicht in Ordnung. Oder um es mit seinen Worten zu sagen: »Da steh i baff davor!«
Es ist ja nicht irgendeine, sondern die folgenreichste Entscheidung überhaupt, die er und seine Kollegen treffen müssen, wenn sie ein Kind aus der Familie nehmen. In ganz Deutschland passiert das 38 500 Mal im Jahr, also 105 Mal am Tag. In Regensburg haben sie vor zehn Jahren 22 solcher Fälle gehabt, letztes Jahr waren es bereits 125, auch die Gefährdungsmeldungen nehmen fast jährlich zu. Dabei ist Regensburg beileibe kein sozialer Brennpunkt: eine barocke 135 000-Einwohner-Stadt mit ostbayerischem Charme, weit weg von den Abgründen der Großstadt. Nur drei Prozent Arbeitslosigkeit, das größte Wirtschaftswachstum in Deutschland. Sangesfreudiger Bischofssitz und derer von Thurn und Taxis. Ein katholisches Bollwerk mit klarem Bekenntnis zur Familie, sollte man meinen. Und doch alles andere als eine Garantie, dass ein Kind hier ungefährdet aufwachsen kann.
Diese Geschichte soll von zwei Fällen elterlicher Überforderung erzählen. Scheinbar ähnlich, führen sie zu völlig unterschiedlichen Entscheidungen des Jugendamtes. Zumindest in einem Fall hätte das Jugendamt ebenso begründet auch genau anders entscheiden können. Die Konsequenzen dieser Abwägung sind gewaltig – sie entscheiden über das künftige Leben eines Kindes. Und seiner Eltern.
Bei Jenny ist es ein endgültiger Abschied.
An dem Tag, an dem Margit Wellner*, 22, bekennt, sie schafft es nicht mehr, fahren die Leute vom Jugendamt ihren Sohn Ben, 3, in eine bessere Zukunft. Natürlich sagen sie ihm nicht, »deine Mama will dich nicht mehr«, man will es ja schmerzfrei machen, oder wenigstens mit so wenig Schmerzen wie möglich, also sagt ihm Schmids Kollegin Sylvia Meimer von der Kinderschutzstelle des Jugendamtes Regensburg, er habe ein Überraschungswochenende auf dem Bauernhof gewonnen. Als sie seine Sachen packen, suchen sie sein Lieblingsstofftier, den Hasen, aus, und Frau Meimer macht es so, dass sich der Hase auch schon freut. Sie sagt: »Jetzt verabschiedest du dich noch von deiner Mama.« Es gibt eine lange Umarmung, und Margit Wellner, die sehr schwach ist, versucht ganz stark zu sein. Versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass sie in den letzten 23 Stunden weder gegessen noch geschlafen hat. Dass ihr Freund seit gestern ihr Exfreund ist. Und eine Zukunft vor ihr liegt, von der sie denkt, dass sie sie am liebsten schon hinter sich hätte.
Das Gefühl eines gewissen Stolzes, sich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben, die vielleicht die schwerste in ihrem Leben war, wird sich erst etwas später einstellen. Es ist eine unegoistische Entscheidung, eine, die das Wohl ihrer zwei Kinder im Auge hat. Eine Entscheidung gegen sich selbst. Lange haben sie ihr beim Jugendamt die verschiedenen Optionen erklärt. Und dann hat sie sich mit ihrer Unterschrift dazu durchgerungen, sich selbst die Kinder zu nehmen. Im Fall von Ben möglicherweise vorübergehend. Obwohl die Hoffnung, dass sie ihr Leben schnell in den Griff bekommt, nur vage ist, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer Pflegefamilie zurückkehrt, mit der Dauer der Zeit immer geringer wird. Bei Jenny ist es ein endgültiger Abschied. In der notariellen Urkunde, die die Adoption besiegelt, steht: »Ich bin darüber unterrichtet, dass diese Einwilligungserklärung unwiderruflich ist.«
Theoretisch darf sie Jenny zwar Briefe schicken, aber was soll man einem drei Wochen alten Kind schreiben? Sie hat zwar ein paar Bilder gesehen von dem schönen Haus mit der geräumigen Terrasse, in dem ihre Tochter jetzt in besseren Verhältnissen aufwachsen wird, aber wo das Haus steht, wird sie nie erfahren. Die Adoptiveltern haben ihr ein kleines bronzefarbenes Kreuz geschickt. Und eine Karte, die jetzt auf dem Küchentisch ihrer 55-Quadratmeter-Dachgeschosswohnung liegt. »Wir sind sehr, sehr glücklich, die kleine Jenny in unser Heim nehmen zu dürfen, und werden ihr unsere ganze Liebe und Wärme geben.« Das hat sie auch versucht, denkt Margit Wellner und kämpft gegen die Tränen und das Gefühl, eine schlechte Mutter gewesen zu sein. Ihre Kinder waren nicht geplant, aber sie hat sie geliebt. Außen auf der Karte ein Sinnspruch: »Das Leben ist ein weißes Blatt. Die Farben sind in Dir.« Frau Wellner sagt, sie könne mit dem Satz nicht so viel anfangen. Vielleicht liegt es daran, dass sie, im Klammergriff ihrer Depressionen, in ihrem Leben selbst vor einem leeren Blatt steht, das ihr seltsam grau erscheint.
Obwohl Sylvia Meimer, Sozialpädagogin in der Koordinierenden Kinderschutzstelle, in den letzten fünf Monaten fast alles getan hat, diesen vorherrschenden Farbton sozusagen mit allerlei Deckweiß und viel praktischer Hilfe wieder lichter werden zu lassen, dieses mit sich selbst verstrickte Leben wieder aufzuhellen. Manchmal geht Frau Wellner nicht ans Telefon, deshalb fährt sie auch oft direkt hin und schaut nach dem Rechten. Sie hat in der Wohnung geholfen, Anträge ausgefüllt, einen Kindergartenplatz gefunden, Förderungen beantragt, mit Ämtern gesprochen und aufgeklärt. Hat angepackt, Vertrauen geschaffen und Eis gebrochen, Trost gespendet und zugehört. Stunden. Tage. Monate. Hat Kleidung gekauft, ein Babybett organisiert und einen Kinderwagen. Als sie von der Spielzeughilfe kommen, ist es selbst für sie, die schon vieles gesehen hat, wie ein Stich ins Herz, als sie merkt, dass Ben, obwohl schon dreieinhalb, noch nie in seinem Leben ein Bilderbuch in der Hand hatte.
Lorenz Schmid macht die »Inobhutnahmen« für den Bereich Regensburg Süd. Sein Job fängt in der Regel dort an, wo der seiner Kollegin Sylvia Meimer aufhört. Frau Meimer unterstützt »niederschwellig« wie es in der Sprache des Jugendamtes heißt. Bei ihr geht es um Prävention und frühe Hilfe auf freiwilliger Basis. Wenn sie aber feststellt, dass mehr Hilfe nötig ist, teilt sie dies Schmid mit, und der organisiert eine Familienhilfe oder was eben gebraucht wird. Auch wenn es unangenehmer und konfrontativer wird und das Familiengericht eingeschaltet werden muss, ist Schmid derjenige, der es regelt. Ruft eine Nachbarin an und sagt, dass nebenan ein Kind geprügelt wird, fährt Schmid mit einem Kollegen hin. Er kann das Kind, wenn er es für angemessen hält, sofort mitnehmen, muss das aber unmittelbar danach von einem Familiengericht genehmigen lassen. Bei einem offensichtlich misshandelten Kind fällt ihm die Entscheidung leicht. Aber es gibt Fälle, bei denen liegen Pro und Contra ganz dicht beieinander. In denen es weder Misshandlung noch Missbrauch gibt, sondern Kinder, die an ihren Eltern hängen. Und Eltern, die ihre Kinder über alles lieben. Und dennoch überfordert sind. Das sind die wirklich schwierigen Fälle. Gruber und seine Freundin zum Beispiel.
Die Raufasertapete im Gruber’schen Wohnzimmer ist eingefasst durch eine Art Bordüre in Form eines Arschgeweihmusters. Es ist nicht ganz klar, weshalb die Rollos halb heruntergelassen sind, vielleicht ist es eine besondere Form der Gemütlichkeit. Trotz frostiger Außentemperaturen ist die Wohnung nicht geheizt. Die Eltern sitzen auf einem braunen Sofa mit rosafarbener Überdecke. Grubers Freundin Stefanie Kirsch in Socken und Trainingshose, ungeschminkt, ein Heimkind auch sie. Gruber fehlt ein Schneidezahn. Durch seinen eindrucksvollen Schnauzbart wird das mehr als kaschiert.
In der Regel führt er das Wort. Aber es gibt Ausnahmen. Soeben sagt Stefanie Kirsch: »Hab die Schnauze voll von Katzen. Die scheißen überall hin.« Aber wenn sie die beim Tierheim abgeben will, kostet es 100 Euro, da können sie sie auch gleich behalten. Das Aquarium ist bereits abgeschafft. Und auch die Schildkröten. Sogar die Hunde. Frau Kirsch achtet, den Hinweisen des Jugendamtes folgend, neuerdings sehr auf Sauberkeit in der Wohnung. Es gab eine Zeit, da hatte sie die ein bisschen aus dem Blick verloren.
Kurz bevor Gruber die Familienhelferin am Kragen packt und rauswirft, was zum Glück nicht das Ende dieser sich über sechs Jahre ziehenden Geschichte ist, sondern gewissermaßen ihre Wendung, stellt sich die Lage in der Wohnung laut Schmid wie folgt dar: Mit der Familienplanung hat es nicht so geklappt, wie das Jugendamt es sich vorgestellt hatte. Klaus Gruber, ungelernt, 38 Jahre alt, erwartet mit seiner 25 Jahre alten Freundin bereits das vierte Kind. Von da an kommt es zu einer atmosphärischen Verschlechterung ihrer Beziehung zum Amt. Das mag daran liegen, dass Schmid sich gezwungen sieht, vorzuschlagen, die Zwillinge, damit sie in einem intakten Umfeld aufwachsen, in einer Pflegefamilie unterzubringen. Auch wird eine Adoptionsfreigabe diskutiert. Schmid sagt: »Ihr seid doch schon mit drei Kindern überfordert!«
Die Wohnung ist, wie die Aufzeichnungen des Jugendamtes belegen, zu dieser Zeit »mehr oder weniger vermüllt«. Überall Essensreste, ein penetranter Geruch. Auf dem Boden volle Aschenbecher, obwohl es Kinder im Krabbelalter gibt. In der Küche steht nun so viel herum, dass Kirsch und Gruber selbst bei gutem Willen nicht mehr in der Lage sind, das Geschirr abzuwaschen oder gar zu kochen.
Aus der Krippe erreicht das Jugendamt die Meldung, dass die Kinder morgens mit riesigem Hunger ankommen und das Essen in einer Weise verschlingen, dass der Verdacht nahe liegt, sie würden zu Hause knapp gehalten. Im Winter erscheinen sie sommerlich gekleidet. Oft fehlen sie unentschuldigt. Die Eltern bringen sie nicht mehr in die Frühförderung, keine Logopädie, keine Ergotherapie, obwohl beides dringend notwendig ist. Dann wirft Herr Gruber auch noch die Familienhilfe aus der Wohnung und lehnt jede weitere Unterstützung ab. Im Oktober 2009 sieht Schmid ernsthafte Gefahren für das leibliche Wohl der Kinder und weiß, dass er nun handeln muss.
*Namen der Familienmitglieder von der Redaktion geändert.
»Das würde ich nie wieder so machen!«
Ein Heimplatz kostet im Schnitt 150 Euro am Tag. Bei vier Kindern addieren sich die Kosten auf 18 000 Euro im Monat, 216 000 Euro im Jahr. Geht man davon aus, dass sie bis zur Volljährigkeit im Heim bleiben, würde die Unterbringung von Grubers Kindern mehrere Millionen Euro kosten. Eine Familienhilfe berechnet 36 Euro pro Stunde, bei den üblichen vier bis sechs Stunden in der Woche rund 9000 Euro im Jahr, im Schnitt wird zwei Jahre betreut: Also 18 000 gegenüber einigen Millionen Euro. Das ist die ökonomische Rechnung, die Schmid vor Augen hat. Bei seiner Entscheidung wird er sich nicht davon leiten lassen.
Es gibt manche Dinge, die man an deutschen Jugendämtern berechtigterweise kritisieren kann. Dass keines der 600 Ämter so organisiert ist wie das andere. Dass die Kette der betreuenden Personen oft zu lang ist. Und es Glückssache ist, an welches Amt man gerät. Aber solange man irgendwo in dieser Kette auf einen Herrn Schmid oder eine Frau Meimer trifft, darf man von relativem Glück sprechen. Die Postkarten an den Bürowänden (»Ohne Sie wären wir jetzt nicht da, wo wir heute sind. Vielen Dank für viele Jahre Hilfe, Verständnis und Entgegenkommen!«) legen das nah.
Sylvia Meimer trägt den strengen Rockabilly-Pony der Fünfzigerjahre und liebt ihren Beruf mindestens so sehr wie Elvis, aber das ist eine andere Geschichte. Bei ihrem ersten Hausbesuch bei Frau Wellner fällt ihr auf, dass deren Sohn Ben trotz seiner dreieinhalb Jahre so gut wie nicht spricht. Es ist nicht so, dass er nicht versteht, was man ihm sagt, aber er antwortet nicht mit Worten. Verständigt sich stattdessen in einer Art Zeichensprache. Er deutet auf die Dinge, die er will, und macht Geräusche dazu. Ab und zu auch einzelne Silben. Die Wasserflasche nennt er »Sasa«, »Peng« ist das Spielzeuggewehr. Der Förderkindergarten, den Sylvia Meimer vermittelt, ist gut zu erreichen, nur vier Bushaltestellen entfernt. Aber Margit Wellner schafft es trotzdem nicht, Ben dorthin zu bringen. Ihr acht Jahre älterer Freund übernimmt die Aufgabe, doch wenn er grad einen Job hat, fehlt Ben im Kindergarten. Mittlerweile hat Frau Wellner eine Therapie gegen ihre Depressionen begonnen. Aber auch da muss man natürlich erst einmal hin. Die Termine hat ihr Frau Meimer an den Kühlschrank gepinnt, doch wenn sie nicht persönlich vorbeifährt und sie auffordert, aufzustehen und in ihr Auto zu steigen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Frau Wellner einfach im Bett liegen bleibt.
Woher hätte sie auch die Stärke gewinnen sollen, aufzustehen? Auch ihre Biografie macht wenig Mut. Die Mutter Alkoholikerin, ihren leiblichen Vater kennt sie nicht, Förderschule, mit 13 zieht sie bei der Tante ein, wird mit 18 schwanger durch eine flüchtige Bekanntschaft, lernt einen neuen Mann kennen und zieht umgehend zu seinen Eltern. Mit ihnen funktioniert es gut. Sie kümmern sich liebevoll um den neugeborenen Ben. Leider zerbricht die Beziehung, weil Frau Wellner und ihr neuer Freund ganz verschiedene Vorstellungen vom Begriff der Treue haben. Sie ist mit Jenny schwanger, als sie auf Facebook einen anderen Mann, Klaus Mengert, kennenlernt. Als sie eine neue Wohnung bezieht, zieht er wenig später mit ein, es ist August 2011. Doch die Beziehung ist wacklig, fünfmal trennen sie sich in einem halben Jahr. Das letzte Mal am Tag vor jenem Wochenende, an dem ihr klar wird, dass sie für ihre Kinder nicht mehr sorgen kann.
Inzwischen ist ihr Freund wieder bei ihr eingezogen. Mit dem Versprechen, bei Stress nicht mehr zu trinken, denn »da zieh ich durch, bis Anschlag!« Er sitzt am Computer und spielt Landwirtschafts-Simulator: Getreide anbauen, Rinder kaufen und solche Sachen. Für Besuch hat er jetzt keine Zeit. Er ist verschwitzt, das Spiel erfordert seine ganze Aufmerksamkeit. Bis zu seinem fünffachen Bandscheibenvorfall hat er selbst in der Landwirtschaft gearbeitet, jetzt kann er die Arbeit nur noch spielen. Das Lieblingsspiel seiner Freundin ist Sims 2, bei dem es im Wesentlichen darum geht, eine Familie zu gründen. Es ist eine romantische Welt, in der sie sich dort bewegt, man kann Glück haben in der Liebe und sich jederzeit seine Wünsche erfüllen.
Nach dem Rausschmiss der Familienhelferin, auf dem Tiefpunkt seiner Beziehung zur Familie Gruber/Kirsch, beruft Lorenz Schmid eine Konferenz ein mit allen Fachkräften, die an der Betreuung beteiligt sind: Kinderarzt, Krippenmitarbeiter, Kindergartenangestellte, drei Betreuer aus der Frühförderstelle, die Familienhelferin. Im Besprechungszimmer legt jeder seine Meinung über die Gefährdungslage dar und erzählt Klaus Gruber, was in seinem Haushalt alles nicht stimmt. Der bricht unter der geballten Autorität zusammen. Und läuft weinend hinaus. Schmid sagt im Nachhinein, er hätte Herrn Gruber dieser tribunalhaften Situation nie aussetzen dürfen. »Das würde ich nie wieder so machen!« Er hat sich später bei Gruber entschuldigt.
Dennoch zeigt die Sitzung Wirkung: Die Sache geht zum Familiengericht. Eine Anhörung dort ist natürlich eine andere Situation, als wenn man mit dem Betreuer auf dem heimischen Sofa sitzt. Der Richter erhöht, in Robe, und Klaus Gruber, der aufgrund einiger früherer Fehltritte ohnehin größten Respekt vor Gerichten hat, muss zu ihm aufschauen. Ein Tag, den er nie vergessen wird. Panische Angst kommt in ihm auf, dass sie ihm seine Kinder nehmen. Aber darum geht es Schmid nicht. Er will, dass Grubers es selbst schaffen. Und noch glaubt er an ihn und seine Freundin.
Nach Paragraf 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches, Familienrecht, Absatz 1, hat das Familiengericht Maßnahmen zur Abwendung von Gefahr zu treffen, wenn das »körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden«. Als geeignete Maßnahme gilt lange Zeit im Wesentlichen der Entzug des Sorgerechts. Durch eine Ergänzung des Paragrafen um den Absatz 3 können seit Juli 2008 jedoch Auflagen vorgeschaltet werden. Die Gruber/Kirschs sind damals eine der ersten Familien in Regensburg, an denen das erweiterte Gesetz erprobt wird.
Die Auflagen sind: Die Kinder müssen täglich in den Kindergarten gehen. Wenn sie wegen Krankheit fehlen, dann zwingend entschuldigt. Nach drei Tagen mit ärztlichem Attest. Kinderarzt-Wechseln wird untersagt. Denn die Grubers neigen – wie viele Menschen in ihrer Situation – dazu, den Arzt sofort zu wechseln, wenn einer ihre Defizite benennt. Ferner verlangt das Gericht, dass die Familienhelferin wieder erscheinen darf. Dass die Frühförderung erneut aufgenommen wird. Und die Wohnung in einem sauberen und kindgerechten Zustand ist. Als Grubers die Auflagen bekommen, geschieht Erstaunliches: Sie setzen sie um.
Kommt ein Brief vom Amt, gerät sie in Atemnot.
Behördengänge machen Margit Wellner nach wie vor Angst. Kommt ein Brief vom Amt, gerät sie in Atemnot. Vorsichtshalber öffnet sie die Briefe oft gar nicht, was natürlich oft zusätzliche Schwierigkeiten bereitet. Finanziell, sagt sie, habe sie den Überblick verloren. Damit ihr Vermieter ein bisschen freundlicher gestimmt wird, will sie jetzt, wo ihre Kinder nicht mehr da sind, einen Dauerauftrag einrichten. Zu spät, da er ihr bereits gekündigt hat. Ein spezieller Betreuer soll ihre Finanzen regeln. Und die von ihrem Freund Mengert gleich mit. Ihm hängt immer noch irgendwie der Audi A 4 an, den er sich mal gekauft hat, obwohl er gar keinen Führerschein hatte.
Frau Wellner verweist auf kleine Erfolge. Sagt, sie sei froh, dass sie nie zum Alkohol gegriffen hat, obwohl das doch in der Familie liegt. Sie müsse ein bisschen abwarten, wie sie mit den neuen Tabletten zurechtkommt. Außerdem wolle sie ihren Hauptschulabschluss nachmachen und eine Ausbildung, als Küchenhelferin oder irgendwas im Service, Zimmermädchen könnte sie sich vorstellen. Vielleicht kommt ihr Ben ja dann irgendwann zurück.
Er fehle ihm sehr, sagt auch ihr Freund, der ihn wie einen eigenen Sohn angenommen hatte. »Der Ben ist mein kleiner Sonnenschein.« Hat ihm ja auch einiges beigebracht. Zum Beispiel mit dem Akkuschrauber, »das ist seine Welt«. Wollte immer irgendwo Löcher bohren. »Papa, Leiste locker«, und schon legte er los. »Egal, was er schraubt, Hauptsache, er schraubt!« Technisch könne man ihm nichts vormachen. »Den kann ich nicht austricksen.« Einmal wollte Mengert ein neues Computerspiel installieren und hat’s irgendwie nicht hingekriegt. Da hat der Ben sich der Sache angenommen und mit seinen kleinen Händen so lange dran rumgedoktert, bis das Spiel lief.
Sie haben noch regelmäßig Besuchskontakt zu ihm, es gibt einen extra Raum im Jugendamt, in dem sie sich alle zwei Wochen treffen. Das letzte Mal trug er eine blaue Latzhose, er lebt jetzt auf einem Bio-Bauernhof im Bayerischen Wald. Sonst hat er ja immer wenig geredet, aber diesmal sagte er: »Schau mal, Papa, Bauernhose!« Alle Männer seiner Mutter sind für ihn »Papa«. Nur mit seiner Mutter fremdelt er. Eine halbe Stunde braucht er, um sich von seinen Pflegeeltern zu lösen und zu ihr rüberzugehen. Dabei dauert der ganze Besuchstermin ja nur eine Stunde. Es ist, als würde man ihr ein stumpfes Messer in den Bauch stoßen, als ihr eigener Sohn sie, zum ersten Mal in seinem Leben, mit »Margit« anspricht. Er hat doch immer »Mama« gesagt.
Am Anfang fällt es Klaus Gruber und seiner Freundin schwer, ihrem Tag eine richtige Struktur zu verleihen. Aber unter sanfter Anleitung erstellen sie einen Haushaltsplan. Und viele andere Pläne. Und arbeiten sie ab. Gegen alle Schwierigkeiten: Ihre vier Kinder sind in drei verschiedenen Kindertageseinrichtungen, und sie haben kein Auto. Aber sie schaffen es trotzdem.
Natürlich hilft auch die Familienhelferin Frau Gschlößl dabei. Ihr Verhältnis zu Herrn Gruber hat sich – zur Überraschung beider Seiten – geändert. Irgendwann hatte Gruber gemerkt, dass er sie nicht einfach ignorieren kann. Dass sie eine Realität in seinem Leben geworden war. Keine Feindin, sondern jemand, der sie auf die Spur setzte, ihnen wie eine Souffleuse einflüsterte, was zu tun war, wenn sie wieder einmal das Drehbuch vergessen hatten. Dass es falsch gewesen war, sie rauszuwerfen, weil sie zwar streng, aber doch stets gut zu ihnen war. Gruber sagt: »Früher war sie ein notwendiges Übel, jetzt ist sie ein gern gesehener Gast.« Im Grunde gehört sie schon fast zur Familie. Schmid sagt ihnen heute, dass sie, nach sechs Jahren Betreuung, bald nicht mehr kommen wird. Sie kämen jetzt auch ohne sie zurecht.
Dass Familie Gruber noch eine Familie ist, hat sie den Auflagen eines Gerichts zu verdanken. Und Herrn Schmid, der aus guten Gründen keine voreilige Entscheidung getroffen hatte – obwohl einiges dafür sprach. Und dem Steuerzahler möglicherweise einige Millionen Euro ersparte, die die Unterbringung der Gruber’schen Kinder gekostet hätte. »Es ist gut, dass es das Jugendamt gibt!«, sagt Klaus Gruber, der es vor nicht allzu langer Zeit noch regelmäßig verwünscht hatte. Eine Freundin haben sie auch schon hingeschickt: Weil das mit den Auflagen bei ihnen so gut klappte, hat sie ihre Sachbearbeiterin gefragt, ob sie nicht auch welche haben könnte. Was ja eher ein seltener Wunsch ist.
Illustrationen: Arne Bellstorf