Ein ganz normaler Samstagabend des Jahres 1993: Ich schaue bis 22.45 Uhr mit meinen Eltern Wetten, dass . . ?, danach lungere ich eine Weile vor dem Kühlschrank herum, dann geht meine Mutter ins Bett, und ich schaue mit meinem Vater Das aktuelle Sportstudio, damals noch mit Dieter Kürten. Gegen 23.30 Uhr stehe ich auf und strecke mich. »Ach, schon müde?«, fragt mein Vater. »Dann schlaf mal gut.« Und ich so: »Bist du verrückt? Ich werde in zwei Minuten abgeholt.« Danach folgt ein Monolog, den ich ungefähr so in Erinnerung habe: Er verstehe einfach nicht, warum »die Jugend von heute« so spät aus dem Haus gehe, weil man, wenn man erst um Mitternacht in der Kneipe ankomme, zwangsläufig bis drei oder vier bleiben müsse, weil es sich sonst nicht lohne, das verstehe sogar er. Er jedenfalls sei früher gegen acht aus dem Haus, spätestens um halb eins wieder zu Hause und am nächsten Morgen dementsprechend ausgeschlafen und bereit für neue Taten gewesen. »Ach, Papa«, sage ich, umarme ihn und stürme aus der Tür.
Gut dreißig Jahre später finde ich, dass er recht hat. Zwar liebe ich rauschhafte Nächte, von denen man nicht weiß, wann und wo sie enden, immer noch, aber halt nur noch zweimal im Jahr. Ansonsten bin ich wahnsinnig gern um 23 Uhr zu Hause, ein kleines Essen, ein Drink, ein Espresso, das nenne ich einen grandiosen Abend, danach lese ich ein Buch oder nehme ein Schaumbad. Man wird älter, die Abende werden kostbarer, die Tage danach auch. Vielleicht kommt es deshalb bei der Abendplanung immer wieder zu Missverständnissen, vor allem wenn ich mit Familienvätern verabredet bin, deren Kinder übers Wochenende bei den Großeltern sind: Sie wollen »endlich mal wieder einen draufmachen, so wie früher, weißt du noch?«, ich will einen gemütlichen Abend, am Ende ist einer enttäuscht oder genervt. Je älter ich werde, desto mehr stresst es mich, nicht zu wissen, was sich der andere von einem Abend erhofft, mit dem Ergebnis, dass ich entweder gleich absage oder vorher ankündige, dass ich spätestens um elf zu Hause sein will, wofür ich mich bereits in dem Moment schäme, in dem ich es ausspreche.
Die Lösung liegt, wie so oft, im Süden – der Aperitivo. Wer in Italien zum Aperitivo eingeladen wird, weiß: Die Sache beginnt um sechs und endet um neun, spätestens halb zehn. Danach kann man nach Hause gehen, jemand anderen treffen, spazieren gehen, fernsehen, kurz: alles machen, worauf man Lust hat, ja man kann sogar, wenn es gemütlich ist, einfach sitzen bleiben und noch einen Drink bestellen. Aber, und das ist der Unterschied: Niemand erwartet es. Ein Aperitivo, ob in einer Bar oder zu Hause, das ist ein Spritz, Prosecco oder Negroni, dazu ein Schälchen Kartoffelchips oder Oliven, ein bisschen plaudern, ein bisschen schauen, ein bisschen lachen, ein lässiger Abend.
Kennen Sie das Problem, dass man Leute einlädt, und irgendwann will man ins Bett, aber die Frau des besten Freundes tanzt mit einer halb vollen Champagnerflasche in der Hand auf dem Küchentisch? Nun, das wäre bei einer Einladung zum Aperitivo nicht passiert, denn auch die Gäste wissen: Um zehn sollte man langsam aufbrechen. Ist das nicht großartig? Ich glaube, dass die gelungene Mischung aus Nähe und Distanz eines der großen Geheimnisse menschlicher Beziehungen ist. Ich glaube, dass Nähe ohne Distanz ein großes Unglück ist, weil sie zur Abstandslosigkeit verkommt. Und der Aperitivo scheint mir dafür ein gelungenes Beispiel zu sein: Geselligkeit ja, aber ohne sozialen Druck, ohne falsche Erwartungen, ohne dass am Ende jemand traurig ist. Können wir diese Tradition bitte übernehmen? Und wenn wir schon mal dabei sind, bitte auch das Wetter und die Strände und okay, Venedig nehmen wir auch noch dazu.