Ein Traum als Kind: Sie wecken mich in der Nacht, komm, wir müssen los! Mama packt Snacks ein, Baba schleppt die Koffer ins Auto, ich torkele in den Wagen, übel gelaunt, denn ich liebe meinen Schlaf, voller Vorfreude, denn wir fahren in den Urlaub. Italien, Kroatien, völlig egal. Hauptsache, weg. In der Schule erzählten mir viele von diesem Traum. Von abendlichen Autofahrten und dem glitzernden Meer im Morgengrauen. Nur dass es kein Traum war, sondern der übliche Sommer meiner weißen deutschen Freunde. Meine Eltern haben ihr Leben lang gearbeitet. Als sie in dieses Land kamen, kam auch die Angst, das Geld könnte am Ende nicht reichen. Das Resultat sind fast 30 Jahre, in denen meine Mutter keinen Urlaub machte. Ich fürchtete, sie weiß überhaupt nicht mehr, wie das geht, Urlaub machen.
Sie zögerte nicht, als ich sie fragte, ob wir zusammen nach Hongkong wollen. Wir sahen uns zur Einstimmung Chungking
Express von Wong Kar-Wai an, den fand sie toll, weil es wie eine Zeitreise war, als wir zu dritt dort waren, meine Eltern und ich. An viel erinnere ich mich aber nicht, ich war zwei. Ich hatte gehofft, meine Mutter würde im Urlaub aus sich herauskommen, sich verwandeln wie mein Onkel, auch er ein Arbeitstier: Wenn er in Shanghai ist, amüsiert er sich. Singt, tanzt, isst, trinkt.
Die Verwandlung kam an Tag zwei. Die Nathan Road in Tsim Sha Tsui, Halsschlagader des Tourismusviertels. Wir sind den ganzen Tag herumgelaufen, als meine Mutter auf einmal vor einem großen Gebäude stehen bleibt und auf das Schild über dem Eingang zeigt: Chungking Mansions. »Da! Aus dem Film!«, schreit sie und klingt wie ich als Kind, als ich im Kinofoyer ein lebensechtes Pikachu sah. In Chungking Express schmuggelt eine Unterwelt-Chefin hier mit ein paar indischen Migranten Drogen. In den Achtzigerjahren war das Realität: Raubüberfälle, Prostitution, Morde. Mama nimmt zwei Stufen auf einmal. »Gehen wir rein?«
Wir schleichen durch das schummrige Labyrinth aus Kiosken, Imbissen und Handyshops. Oder eher: Ich schleiche. Sie hüpft von Laden zu Laden. Ist natürlich alles voller Touristen und sicherer heute durch die Kameras, aber ein bisschen mulmig ist mir scho- … »EY!«. Ein Ladenbesitzer brüllt, ich zucke zusammen. »Are you hungry?!«
Ein bisschen wirkt er wie die Disney-Karikatur eines zwielichtigen Basarhändlers: dienende Haltung, schiefe Zähne und wild gestikulierende Pranken, die einen Brauereigaul erschlagen könnten. Meine Mutter schlendert hin, der Typ stellt sich als James vor, das sei einfacher als sein echter Name. Sie zeigt auf das Getränk, an dem James kurz zuvor geschlürft hat. »Oh, that’s golden milk.« Als Pakistani sei er auf die Inder nicht so gut zu sprechen, sagt er, aber »this stuff«, das hätten die wirklich drauf. Er trinke das jeden Tag. Milch, Honig und Kurkuma, das für Inder wie heißes Wasser für Chinesen ist: ein Wundermittel. Meine Mutter ist angefixt und fragt nach zwei Gläsern. Steht nicht auf der Karte, aber sie bequatscht James so lange, bis er einen Helfer in Richtung Küche scheucht. James zieht mit dem beflipflopten Fuß einen Hocker heran und plaudert mit ihr, bis der Helfer mit zwei Bechern zurückkommt.
Das muss man sich vorstellen: Meine Mutter, die sich jahrzehntelang geweigert hat, Sprudel zu probieren, stürmt in eine ehemalige Gangsterhochburg und trinkt mit einem fremden Pakistani ein obskures Getränk, das »golden milk« heißt. Es schmeckt wirklich gut. Als wir uns von James verabschieden, ist es dunkel. »Wollen wir nicht noch einen Snack?«, fragt sie. Ich bin übel gelaunt, denn ich liebe meinen Schlaf, und ich bin voller Freude, denn sie macht endlich Urlaub. Müde torkele ich hinter meiner Mutter in die Straßenbahn, die uns in die Nacht trägt, völlig egal wohin.