Wer in Büroküchen herumsteht, sieht seit einiger Zeit nicht mehr nur Sprüche-Tassen und glänzende Kaffeeautomaten. Sondern vor allem Leute, die Knollen in Streifen schneiden und mit heißem Wasser übergießen, bis sie eine urinfarbene Brühe vor sich haben, in der streichholzförmige Teilchen schwimmen: Ingwertee. Wenn der Telekom-Chef Timotheus Höttges morgens in einem Learjet unterwegs zu Terminen ist, nimmt er Medienberichten zufolge erst mal ein Glas Ingwertee mit Zitrone zu sich. Über den neuen Bayern-Trainer Niko Kovac hieß es in der Frankfurter Rundschau: »Alkohol ist nicht seine Sache, eher schon Ingwertee.« Von den Menschen, die sich in Coworking Spaces in Berlin-Mitte oder den Meeting-Räumen von Start-ups aufhalten, ganz zu schweigen: Irgendjemand setzt immer eine Kanne auf. Ingwertee ist der neue Filterkaffee.
Allein am Geschmack kann das nicht liegen. Heißes Wasser mit Ingwer schmeckt erst nach nicht besonders viel und dann stechend scharf, was man mit frisch gepresstem Zitronensaft, Minzblättern und Honig ausgleichen muss. Und nach spätestens zwei Tassen steigt die Hitze in einem auf, als hätte man einen Aufguss in der Sauna hinter sich. Oder Wechseljahresbeschwerden. Warum also schütten die Leute literweise Ingwertee in sich hinein? Vielleicht wegen der medizinischen Wirkung, die Ingwer zugeschrieben wird. Die ätherischen Öle und Scharfstoffe aus dem Wurzelgeflecht sollen bei Kreislauf- und Magenbeschwerden helfen, Reiseübelkeit lindern und den Blutdruck senken. Oder liegt es an der Art der Zubereitung? Ingwer zu schälen und zu schnippeln hat etwas Andächtiges, wie eine Zeremonie in einem japanischen Teehaus. Als könne durch die verschiedenen Schritte, die man beim Teekochen durchläuft, auch die Seele in einen anderen Zustand gelangen. Die Reingwernation.
Ingwer wird vor allem in Indien angebaut und spielt eine zentrale Rolle im Ayurveda, weshalb der natürliche Lebensraum von Ingwertee der Wellnessbereich ist. Dort wird er in pastellfarbenen Keramikgefäßen zwischen Teakholzliegen und Stapeln von Handtüchern serviert und bei Kerzenschein in langsamen Schlucken eingenommen, Achtsamkeit und Fitness zum Trinken gewissermaßen. Von dort fand der Ingwertee seinen Weg erst in die Hipster-Cafés der Großstädte und dann an die Krankenbetten des Landes, wo es ja auch egal ist, wovon man seine Hitzeschübe bekommt, vom Fieber oder vom Tee. Bis er immer weiter nach unten durchgereicht wurde und irgendwann in den Niederungen dieser Erde ankam, auf den Schreibtischen der Büros.
Und dort steht er jetzt, umgeben von Bergen aus Ingwerschalen, ausgepressten Zitronenhälften und Quetschflaschen mit Honig aus China. Ingwertee ist zum Getränk der arbeitenden Bevölkerung geworden. Die steckt in Bullshit-Jobs fest, so hat es der US-Anthropologe David Graeber beschrieben: in Bürotätigkeiten, die hochtrabende Bezeichnungen wie »technischer Insolvenzberater«, »Portfolio-Koordinatorin« oder »Interface Administrator« haben, deren Sinn sich aber niemandem erschließt, am allerwenigsten den Beschäftigten selbst. Ihnen bleibt nur, abzuwarten und Ingwertee zu trinken. Und sich beim Trinken einzureden, dass man selbstbestimmt und gesund lebt, ja, gerade fünf Minuten Wellness macht. Wo man doch nur in einem tristen Großraum sitzt, dem tristen Dasein ausgeliefert.