Das Haus, in dem David Lynch in Los Angeles lebt, ist das Haus aus seinem Film Lost Highway, auf dessen Stufen Bill Pullman und Patricia Arquette mysteriöse Videos aus ihrem Schlafzimmer finden. Lynchs Assistentin öffnet die Tür und führt durch einen getäfelten Vorführraum und ein Tonstudio, in dem vier junge Leute an einem Mischpult sitzen. Die Lampen und manche der von Lynch selbst gebauten Möbel im Haus sind die gleichen wie in Lost Highway und Mulholland Drive. In der Küche läuft eine Espressomaschine. Lynch ist notorischer Kaffeetrinker und verkauft sogar seine eigene Kaffeemarke »David Lynch Coffee«. Die Assistentin öffnet eine Hintertür zum Garten und führt den Besucher über einen gewundenen Pfad zum Atelier, wo Lynch, 67, bereits wartet.
SZ-Magazin: Herr Lynch, die Idylle hier steht in krassem Gegensatz zu Ihren Filmen wie auch Ihren Gemälden. Dort finden sich faulende Schmorbraten, Ameisen und tote Mäuse. Was fasziniert Sie so am Verfall?
David Lynch: Eine Arbeit muss sich für den Künstler richtig anfühlen. Dann ist sie auch stimmig, dann ist alles möglich.
Sehen Sie sich heute mehr als Maler oder als Filmemacher?
Ein Film ist ein Bild mit Ton und einer Geschichte. Der Maler Francis Bacon zum Beispiel wollte keine Geschichten erzählen, aber viele Betrachter entdecken sie trotzdem in seinen Werken. Letztlich hat man keinen Einfluss darauf, was beim Anblick eines Bildes mit dem Betrachter passiert.
Betrachten Sie all Ihre Filme als eine einzige große Leinwand?
Ich sehe sie als lauter unterschiedliche Kinder.
Es gibt eine lustige Geschichte über ein Gemälde von Anselm Kiefer, das einmal ein bisschen Stroh verlor. Sein Besitzer, der Schauspieler Sylvester Stallone, brachte das Stroh mit Sekundenkleber wieder an.
Wenn Kiefer das Stroh wieder in das Bild klebt, hat er eine konkrete Vorstellung, wo es hingehört. Wenn Sylvester das tut, kann es in einer Katastrophe enden. Es ist wie beim final cut in einem Film. Das letzte Wort sollte immer der Künstler haben.
Sie bestehen bei jedem Film darauf, dieses letzte Wort über die Endfassung zu haben. Das wird nur sehr wenigen Regisseuren zugebilligt.
Da ich über die Malerei zum Film kam, hat es mich am Anfang sehr überrascht, dass ein Filmemacher jemals einen Film machen würde, ohne dabei seine totale Freiheit zu bewahren. Als Maler hat man immer die absolute Freiheit.
Als Mel Brooks Ihnen vor gut dreißig Jahren die Regie von Der Elefantenmensch anbot, einem Film über einen grässlich verunstalteten Mann im viktorianischen England, waren Sie noch ein Niemand. Der Film erhielt acht Oscar-Nominierungen, darunter für den besten Film. Warum hat Brooks gerade Sie auserkoren?
Mel Brooks ist eben ein seltener Vogel. Ihm hat Eraserhead, mein erster Film, sehr gut gefallen, den ja außer ihm fast niemand gesehen hat.
Brooks ist hauptsächlich als Komödiant bekannt. Wie kam es, dass er sich für so ein ernstes Projekt erwärmte?
Er hat die Seele eines Dichters, er ist hochsensibel und versteht die menschliche Natur. Sonst hätte er vermutlich auch keine Komödien machen können.
Der Film wurde ein großer Erfolg. Daraufhin bot Ihnen der legendäre Hollywood-Produzent Dino De Laurentiis eines der größten Budgets der Geschichte Hollywoods für den Science-Fiction-Film Dune – Der Wüstenplanet an. Erlagen Sie dem Reiz des vielen Geldes?
Ich mochte das Drehbuch. Dino war einer der letzten großen Magnaten von Hollywood. Er hatte eine unglaubliche Energie, ich liebte ihn und seine ganze Familie. Er hat mir beigebracht, wie man Rigatoni kocht. Aber mit Der Wüstenplanet hatte ich das Gefühl, dass Dino und seine Tochter Raffaella mir wirklich eine Menge aufgezwungen haben.
Was wurde Ihnen denn aufgezwungen?
Dass ein Film zum Beispiel nur eine bestimmte Länge haben darf, weil die Kinobetreiber sonst Geld verlieren. Ich wusste bereits bei Vertragsabschluss, dass ich zu optimistisch war: Ich hatte auch keinen final cut und bin deshalb einen langsamen Tod gestorben. Aber es gibt immer noch Teile des Films, die ich mag.
Danach rauschte Ihr Marktwert in den Keller. Warum hat De Laurentiis trotzdem mit Ihnen weitergearbeitet?
Er hat irgendwie an mich geglaubt und mich als nächstes Blue Velvet machen lassen, sogar mit final cut. Im Gegenzug dafür bekam ich nur ein sehr kleines Honorar. Dino war eben ein ausgekochter Geschäftsmann.
Ließ er Sie beim Dreh in Ruhe?
Wir waren der kleinste Film in seinem neuen Studio in Wilmington in North Carolina. Zur selben Zeit wurden dort zwölf andere Filme gedreht, die alle viel teurer und mit großen Stars besetzt waren. Keiner beachtete uns.
Viele wichtige Entscheidungen für einen Film werden heute vom Publikum gefällt. Newcomer in Hollywood wie Amazon oder Netflix machen sogar Zuschauerumfragen, bevor ein Dreh beginnt. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Solche Umfragen sind meistens Unsinn. Dino ließ Blue Velvet damals in einem Kino testen, wo sonst Filme wie Top Gun mit Tom Cruise liefen. Es war also ein Top Gun-Publikum, das die Testkarten ausfüllte – das Ergebnis war verheerend, das schlimmste Screening, das Dinos Leute je gesehen hatten. Aber der Film hat sich am Ende doch für ihn gelohnt.
Ist es heute schwieriger, Geld für Filme aufzutreiben?
Auf jeden Fall. Ich arbeite nicht mit den großen Studios zusammen, und sie können umgekehrt gut ohne mich leben.
Woran liegt das?
Die Studios bedienen Kinobesitzer, und die wollen ihre Filmtheater füllen. Und das Publikum verlangt etwas für sein Geld, ein Kinoabend ist schließlich nicht billig: Man muss einen Babysitter zahlen, der Parkplatz kostet Geld, die Eintrittskarten, Getränke, Popcorn. Dafür wollen die Leute auf eine bestimmte Art unterhalten werden, und ich biete diese Art der Unterhaltung eben nicht.
Marilyn Monroe hat einmal gesagt, in Hollywood würden 50 000 Dollar für ein Kuss bezahlt und 50 Cent für die Seele. Ist das der Grund, warum bei den Studios beliebte Regisseure wie Steven Spielberg oder Roland Emmerich wohlhabender sind als Sie?
Ich glaube schon, dass Steven Spielberg die Filme macht, die er wirklich liebt und mit
denen er sich identifiziert. Sein Glück ist, dass Milliarden Menschen die gleichen Filme wie er gut finden.
Als Sie in jungen Jahren Ihre erste Ehefrau verließen, erklärten Sie ihr, Sie wollten lieber ein Künstlerleben führen als ein Familienleben. Was ist das für ein Leben?
Zigaretten rauchen, Kaffee trinken, nicht heiraten und auf keinen Fall Kinder haben.
Aber Sie sind doch gerade erst wieder Vater geworden, mit Ihrer neuen Frau, der dreißig Jahre jüngeren Schauspielerin Emily Stofle.
Stimmt, ich habe nun vier Kinder und bin zum vierten Mal verheiratet. Aber ich rauche noch und trinke auch noch Kaffee.
Sehen Sie sich selbst als Teil von Hollywood?
Nein. Die Leute denken oft, dass sich die Regisseure hier dauernd treffen und zusammen ausgehen und feiern. Ich verlasse mein Haus kaum. Aber mir gefällt es, in einer Stadt zu leben, wo Filmemacher wohnen und Filme gedreht werden. Und ich liebe das Licht und das Gefühl von Freiheit hier.
Was kriegen Sie davon mit, wenn Sie Ihr Haus nicht verlassen?
Bevor ich einen Film mache, muss ich mich in eine Idee verlieben. Dann prüfe ich anhand meiner Umwelt, ob sich diese Idee gerade richtig anfühlt. So was liegt in der Luft, vor allem in Hollywood. Wenn das Gefühl nicht da ist, muss man die Finger davon lassen.
Ist dieses Gefühl auch dafür verantwortlich, dass Sie Ihren seit mehr als dreißig Jahren geplanten Film über einen Zwerg, der die Kontrolle über den Strom hat, bis heute nicht gedreht haben?
Ronnie Rocket, ja. Ich hatte nie das Gefühl, dass die Zeit reif für ihn war.
Das heißt, Sie haben das Projekt noch nicht aufgegeben?
Aufgegeben nicht. Aber Ronnie Rocket spielt in einer Industriewelt der Fabriken und der rauchenden Schornsteine. Diese Welt war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch sehr lebendig. Dann kam dieses elende Graffiti auf – ziemlich das Schlimmste, was dieser Welt zustoßen konnte.
Ist Graffiti nicht auch Malerei und damit eine Form des künstlerischen Ausdrucks?
Nein, Graffiti hat die Welt der Industriearchitektur, der faszinierenden Fabrikgebäude ruiniert. Man kann nicht mehr in diese Zeit zurückgehen.
Sind Sie nostalgisch?
Ich verspüre eine gewisse Sehnsucht nach den Fünfzigerjahren. Das Leben schien so optimistisch und hoffnungsvoll, die Autos sahen fabelhaft aus – und es war die Geburtsstunde des Rock ’n’ Roll. In den Sechzigerjahren wurde das Leben dann düsterer.
Ihr letzter Film Inland Empire, ein albtraumhaftes Dreistundenepos, ist gefloppt. Waren Sie sehr enttäuscht?
Ich war verletzt. Ich glaube, es war mein erster Film, der einen Verlust einfuhr. Viele Verleiher haben Geld verloren. Die meisten Menschen haben ihn nicht verstanden und für Schwachsinn gehalten. Vielleicht war er seiner Zeit voraus.
Neulich lief in New York eine Serie von Kinofilmen unter dem Titel Ausgebuht in Cannes. Wie fanden Sie es, dass Sie gleich mit zwei Filmen – Wild at Heart und Twin Peaks: Fire Walk With Me – vertreten waren?
Ich habe bei den Festspielen in Cannes sogar erlebt, wie Federico Fellini ausgebuht wurde. Der große, große Fellini. Das war entsetzlich.
Einige gefeierte Filmemacher wie Michael Cimino oder der späte Billy Wilder haben ihr Gespür fürs Publikum verloren. Was passiert, wenn der Wind sich dreht?
Das Geheimnis besteht darin, zu erkennen, dass sich die Zeiten ändern, und dass man sich deshalb auch selbst ändern muss. Sonst fällt man.
Haben Sie manchmal Angst, den Draht zum großen Publikum verloren zu haben?
Von Zeit zu Zeit hat man einfach das Riesenglück, dass vielen gefällt, was einem selbst gefällt, wie zum Beispiel bei Twin Peaks oder Blue Velvet. Das gelingt aber nicht immer. Am wichtigsten ist, dass man selbst seine Arbeit liebt.
Was für ein Gefühl haben Sie, wenn Sie heute ins Kino gehen?
Es scheint, dass heutzutage alles billiger wird. Die Bilder sehen billiger aus, die Töne klingen schwächer. Wir leben in einer Wegwerfkultur.
Schlechte Zeiten für große Regisseure?
Es gibt Menschen, die auch heute noch Regisseure wie Federico Fellini entdecken, die solche Filme sehen wollen und sich fragen, warum es die nicht mehr gibt. Große Filme werden immer ihr Publikum finden. Aber die meisten Leute sind eben ganz zufrieden mit dem anderen Zeug, nicht wissend, was sie versäumen.
Im Internet kursiert ein Clip, in dem Sie das iPhone als »fucking telephone« beschimpfen. Man könne darauf nicht ernsthaft Filme anschauen. Woher rührt Ihre Wut?
Einige Filme, die kein großes Publikum finden, können durchaus zu Hause vor dem Fernseher funktionieren. Aber sicher nicht auf einem Telefon. Da stimmt dann nichts mehr. Nicht der Sound, nicht das Bild, nicht die Umgebung. Man kann über einen Telefonbildschirm nicht in einen Film eintauchen.
Was unterscheidet den Fernseher von der großen Leinwand?
Die Menschen sind einzeln toleranter, ein großes Publikum verzeiht nicht. Mit den Jahren habe ich gelernt, dass in einem Kino die Intelligenz des gesamten Publikums höher ist als die des Einzelnen, es entsteht ein kollektives Bewusstsein.
Das große Publikum irrt nie?
Wenn zu viele Leute ein Werk nicht mögen, sollten Künstler das zumindest ernst nehmen.
Sie sind ein großer Anhänger fernöstlicher Spiritualität. Welche Rolle spielten persönliche Begegnungen mit geistigen Führern wie dem Dalai Lama oder dem Maharishi Yogi für Ihre Arbeit und Ihr Leben?
Den Dalai Lama traf ich, als ich gerade an Twin Peaks arbeitete. So kam es zu Special Agent Dale Coopers Faible für Tibet. Maharishi Yogi hat eine Technik namens Tranzendentale Meditation (TM) entwickelt, die ich seit fast vierzig Jahren praktiziere. Seitdem meditiere ich zweimal täglich.
Was bewirkt diese Meditation bei Ihnen?
Fragen Sie meine erste Frau. Ich war plötzlich nicht mehr wütend, sondern ausgeglichener. Man verabschiedet sich von Stress, traumatischen Belastungen, Depressionen und Wut. Die Angst schwindet. Dinge, die einen früher aus dem Gleichgewicht gebracht haben, sind nicht mehr bedrohlich. Menschen, die man nicht leiden konnte, stören einen nicht mehr. Es ist, als ob man eine kugelsichere Weste hätte. Eine glücklichere Welt offenbart sich.
Wie kommt es dann, dass Ihre Filme eher von exzessiver Gewalt geprägt sind?
Gewalt ist nun mal Teil dieser Welt, aber deswegen heiße ich sie nicht gut. TM ist wie ein Schlüssel, der die Tür zu einem anderen Bewusstsein öffnet. Was nicht heißt, dass ich ein Asket wäre. Die materielle Welt kann betörend und spannend sein. Aber es gibt etwas anderes, viel Wichtigeres als nur die materielle Welt. Und wer das begreift, kann sie noch mehr genießen.
Sie fördern den Bau von sogenannten Friedenspalästen und konnten Kollegen wie Martin Scorsese, Jerry Seinfeld und Kate Perry zur Unterstützung gewinnen. Was erwarten Sie sich davon?
Um friedlich zusammenzuleben, braucht man Friedensgruppen, die anderen das Meditieren beibringen. Das können auch Angestellte sein, die dafür bezahlt werden, oder Freiwillige. Wenn nur ein Prozent der Bevölkerung meditieren würde, hätte das gewaltige Auswirkungen auf das kollektive Bewusstsein.
Sie glauben tatsächlich, dass der Weltfrieden durch Meditation erreicht werden kann?
Ich glaube: Das Feld des Friedens war schon immer da. Dieses Meer des Friedens kann jedem zugänglich gemacht werden, sodass auch der Einzelne mehr Frieden findet.
Was geschah mit Ihnen selbst nach dem vierwöchigen Erleuchtungskurs bei Maharishi Yogi, der Sie immerhin eine Million Dollar gekostet hat?
Ich habe all das erlebt, wovon ich eben gesprochen habe. Aber ich bin nur ein Bote. Ich gebe nur weiter, was mich der Maharishi gelehrt hat.
Haben Sie je erlebt, dass reale Probleme mithilfe von Meditation gelöst wurden?
Ja, an einer Schule in San Francisco, damals die schlimmste Schule der ganzen Stadt. Der Direktor war nicht gerade ein Typ, der sich leicht für Meditation erwärmen ließ. Aber er begriff, dass es nichts zu verlieren gab, also sagte er: Lasst es uns probieren. Fast alle an der Schule begannen zu meditieren, Schüler, Lehrer und der Direktor. Die Noten wurden besser. Die Schüler lernten etwas, die Lehrer unterrichteten wieder mit Leidenschaft. Davor hatte es jede Woche Auseinandersetzungen gegeben, regelmäßig waren die Polizei und Krankenwagen angerückt. Ein Jahr später war alles anders.
Viele Menschen halten das, was Sie sagen, für Unsinn und fühlen sich an Scientology erinnert, die in Hollywood auch sehr präsent ist.
TM ist eine Meditationstechnik und keine Sekte oder Religion. Auf dem EEG-Gerät lässt sich das wunderbar nachweisen. Wenn ein Mensch wirklich meditiert, leuchtet das ganze Gehirn. Transzendieren ist die einzige Erfahrung im Leben, die das bewerkstelligt. Wenn man dagegen etwa Klavier spielt oder ein Bild malt, wird nur ein winziger Teil des Gehirns in Anspruch genommen.
Haben Sie keine Angst, das Glück, das Sie aus der Meditation schöpfen, könnte Ihre kreative Arbeit beeinträchtigen?
Negativität zerstört die Kreativität. Um interessante und sinnvolle Arbeit zu leisten, muss man nicht unglücklich sein.
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