Das Gesicht, das Picasso faszinierte: 1936 lernte er Dora Maar kennen, im selben Jahr entstand dieses Foto von Man Ray.
Im Frühjahr 1997 muss es gewesen sein. Die alte Frau lag im Bett, das faltenlose Gesicht mit den schwarzen Augen von einem dunklen Turban umhüllt, wie sich der Besucher später erinnerte, graue Perücke über ihrem schneeweißen Haar. Sie zeigte auf eine kleine Tuschzeichnung, ihre Hände waren zu kraftlos, um etwas halten zu können. Henriette Theodora Markovitch, die dem Sammler und Galeristen Heinz Berggruen unter ihrem Künstlernamen Dora Maar vertraut war, seit er sie vor bald fünfzig Jahren in Paris kennengelernt hatte, brauchte dringend Geld, um offene Rechnungen – Telefon, Heizung, Strom – bezahlen zu können. Deshalb hatte sie ihn zu sich nach Ménerbes gebeten und den kleinen Picasso aus ihrem Besitz angeboten. Er akzeptierte, ohne zu zögern, den geforderten Preis. Die Summe hätte gereicht, nicht nur die aktuellen, sondern über die nächsten Jahrzehnte sämtliche Rechnungen zu begleichen.
Doch allzu viel brauchte Dora Maar nicht mehr zum Leben. Kurz nach dem Besuch des Picasso-Sammlers umarmte sie gnädig der Tod. Hatte sie überhaupt noch ein richtiges Leben gehabt, nach einem Sturz seit drei Jahren bettlägerig, fast neunzig, strenggläubig nur noch Gott suchend, dessen verkündetem Wort sie im Radio lauschte, weil sie zu schwach geworden war, täglich die Messe zu besuchen – unversöhnt mit dem, der einst ihr einziger Gott war und sie für eine Jüngere verstoßen hatte? Ja, sie hatte wohl noch ein Leben und für sich sogar eine Art von Glück gefunden im Unglück des verlorenen Glücks, das Pablo hieß. Die klösterliche Einsamkeit im kalten Haus, das ihr Picasso nach der Trennung geschenkt hatte, war von Dora Maar selbst gewählt. Die Telefongespräche, die sie täglich führte, genügten ihr irgendwann als Kontakt zur Welt, als deren mondäner Mittelpunkt sie sich mit rotgrellen Fingernägeln und Hüten von Elsa Schiaparelli einst in Paris inszeniert, die Bewunderung genossen hatte. Ja, was ihr an Leben geblieben war, schien ihr lebenswert zu sein: ihre Erinnerungen. Ihre Sammlung. Die Bibel. Zwei Klosterbrüder, zu denen sie, solang sie sich noch ohne Hilfe bewegen konnte, per Moped fuhr, um mit ihnen über die Endlichkeit des Diesseits und die Unendlichkeit des Jenseits zu meditieren. Besucher wimmelte sie ab. Die sie von früher kannten, sollten sie nicht als altes Weib sehen. Auch eine andere einst schöne Frau, Marlene Dietrich, hat es so gehalten, sich in ihrer Innenwelt vergraben und nur noch telefonisch mit der Außenwelt Kontakt gehabt.
Am 16. Juli 1997, wenige Wochen nach Heinz Berggruens Besuch, ist Henrietta Theodora Markovitch gestorben. Die Beerdigung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Nachruf in Le Monde erschien erst einen Tag danach. Ihr Geburtsname stand auf dem Totenschein. Als Dora Maar dagegen, wie sie sich seit ihrem Studium Ende der Zwanzigerjahre nannte, als die Schöne im Schatten des göttlichen Teufelkerls Pablo Picasso, war sie unsterblich wie dieser.
Durch ihre Kunst als Fotografin und Malerin hatte die von Picasso geliebte und gedemütigte Frau einen eigenen Namen. Der amerikanische Autor James Lord, der mit den US-Truppen 1944 ins befreite Frankreich kam, schilderte sie als einen Menschen, wie er ihn niemals zuvor gesehen habe: »Völlig fremd, geheimnisvoll, mit eindrucksvoll strahlenden Augen.« Picasso hat sie in seiner Art so porträtiert und einige seiner eben tatsächlich unsterblichen Werke mit dem Namen Dora Maar verknüpft: Dora Maar im getupften Kleid, Dora Maar und der Minotaurus – wobei der die Nackte besteigende Geile damals, 1936, nur einer sein durfte! –, Sitzende Frau in einem Sessel und natürlich alle Porträts der Weinenden Frau, mal mit rotem Hut, mal mit gelbem Schal, mal pur.
Als »Weinende« ist sie in der Kunstgeschichte berühmt, als Weinende, die über den Zustand der Welt die »Tränen der ganzen Menschheit« vergießt, als Verzweifelte auf Picassos monumentalem Wandgemälde Guernica, die eine Lampe hochhält, das Grauen im spanischen Bürgerkrieg beleuchtend. Des Meisters Arbeit an Guernica hat sie in meisterlichen Fotografien dokumentiert. Sie war die Einzige, die während der Entstehung sein Atelier betreten durfte. Dora Maar wohnte zwar nur ein paar hundert Meter entfernt, aber ihn unangemeldet zu besuchen hatte er ihr verboten. Sie dagegen sollte zu Hause verfügbar sein, falls Pablo auf einen Sprung vorbeizukommen gedachte.
Wie hält man das aus? Es ist, wie es nun mal ist, schrieb Jahrzehnte später Erich Fried, ein Überlebender der von Dora Maar und Pablo Picasso gleichermaßen gehassten Faschisten deutscher Nation, in einem Gedicht: »Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst/ Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe«.
In Picassos nachlesbarem Liebesleben war sie die Nummer fünf, die fünfte Geliebte, bekannt jedoch mit eigener Kunst, bevor sie ihn traf. Eine eigenartige Frau zudem, die als Fotografin und Malerin bei den Surrealisten in Paris, deren Manifeste sie unterschrieb, deren Aufbruch in eine verstörende doppelte oder doppelt belichtete Wirklichkeit sie mit ihrer Rolle begleitete, eine Hauptrolle spielte. Die gab sie ab, als sie ihren Lebens-Mann traf, gab sich ihm hin und gab sich für ihn dennoch nie auf.
Kennengelernt hatte sie ihn 1936. Die damals 28-jährige dunkelhaarige junge Frau, begehrt von vielen, emanzipiert selbstbewusst in der Wahl ihrer Liebhaber, nie eine Gunst erbittend, sondern Anerkennung fordernd, wurde Picasso von Paul Eluard vorgestellt, der mit seiner wundersamen Frau Nusch (geboren in Deutschland als Maria Benz) zur intellektuellen Pariser Szene gehörte, in der Dora Maar zu Hause war. Nachhaltig fasziniert war der charismatische Egozentriker Picasso, 26 Jahre älter als sie, erst, als er sie eines Tages im »Deux Magots« wiedersah und beobachtete, wie sie mit einem Taschenmesser spielerisch in die Lücken zwischen ihren behandschuhten Fingern auf der marmornen Tischplatte stieß. Manchmal traf sie sich dabei selbst ins Mark. Er sprach sie auf Französisch an. Sie antwortete in seiner spanischen Muttersprache. »Ich habe ihn mit meiner Stimme verführt«, interpretierte sie diesen magischen Moment, der ihr Leben veränderte, die blutgetränkten Handschuhe bewahrte Picasso als Reliquien in einer Vitrine auf.
Dora Maar, Tochter eines jugoslawischen Vaters – Markovitch – und einer französi-schen Mutter, aufgewachsen in Argentinien, Studium in Paris, hatte als Malerin und Fotografin schon viele Einzelausstellungen gehabt. Sie war keine der jungen Musen, die sich Picasso zum Frühstück gönnte und mittags schon wieder vergessen hatte.
Arm dran war sie übrigens nie, finanziell gesehen, auch damals nicht, als Berggruen sie in Ménebres besuchte. Das erwies sich nach ihrem Tod. 140 Bilder, Zeichnungen, Buchillustrationen, Kritzeleien und Skulpturen des Genies, das ein Vierteljahrhundert vor ihr gestorben war, fanden die Nachlassverwalter. Ihre Picasso-Sammlung, viele Bruchstücke einer überlebensgroßen Liebe, umfasste neben Gemälden und Zeichnungen, über deren steigende Preise sie sich anhand von Auktionskatalogen informiert hatte, bemalte Streichholzschachteln, vollgekritzelte Zigarettenpäckchen – sie war viele Millionen wert. Sogar das, was Picasso beim Essen mit seiner Geliebten in einem Restaurant auf die Papiertischtücher gezeichnet hatte, hatte sie sorgsam ausgeschnitten und aufbewahrt.
Im Laufe der Jahre, in denen sie zusammen waren, mal einander nah, mal einander fern in der Straßenbahn zur Endstation Sehnsucht, auf deren Fahrt er sie dann 1946 zum Aussteigen zwang, sie zurück- und herablassend demütigte, kam einiges an Zufallskunst zusammen. Sogar der Klodeckel im Haus, in dem sie ab 1984 ständig lebte, stammte von Picasso. Er hatte ihn bemalt und ihr einen seiner Machosprüche mit auf den Weg gegeben: »Dann kann Dora beim Kacken auf meinem Werk sitzen«.
Die Suche nach Erben dauerte Monate, schließlich wurden zwei entfernte Cousinen gefunden. Die Versteigerung fand Ende 1998 statt, erbrachte umgerechnet rund 25 Millionen Euro, und war nicht nur ein finanzieller Erfolg, sondern ein gesellschaftliches Pariser Ereignis. Dora Maar wurde zu einem Mythos erhöht. Alles passte ins Klischee: Liebende, Verlassene, Einsame, Schwache, Starke – und nun auch noch tot.
Die Liebesaffäre zwischen Dora Maar und Pablo Picasso war eine Amour fou. Es gab – vom Partnertausch an heißen Sommernachmittagen an der Côte d’Azur bis zu eifersüchtigen Ausbrüchen beider, auf Alleinanspruch des anderen Körpers bestehend, was Picasso für sich forderte, ohne ihr Gleiches zu gestatten – alle Abgründe einer rasenden Leidenschaft. Er behielt auch in der Zeit mit Dora Maar seine andere Geliebte Marie-Thérèse, die ein Kind von ihm hatte. Über acht Jahre dauerte das Dreiecksverhältnis. Picasso spielte voller Lust beide Frauen gegeneinander aus und hielt das für normal.
Als er sich dann in die vierzig Jahre jüngere Françoise Gilot verliebte – die einzige Frau, die ihn verließ und nicht wie alle anderen von ihm verlassen wurde – und sich endgültig von Dora Maar trennte, verfiel sie, selbstmordgefährdet, in Depressionen und unterzog sich zur Rettung vor ihren Dämonen einer Psychoanalyse. Ihr behandelnder Arzt sah nur zwei Möglichkeiten: Entweder Einweisung in eine geschlossene Anstalt für immer oder aber sie würde einen neuen Gott finden, dem sie sich bedingungslos hingeben konnte. Ausgerechnet im Schoß der katholischen Kirche, wo Frauen entweder eine von Gott ausgedachte Versuchung durch den Teufel sind oder aber Gottes Vertretern auf Erden zu dienen haben als androgyne Wesen, fand die verlassene Frau Zuflucht. Fühlte sie sich aufgehoben. Glaubte sie sich im Glauben geborgen.
Anfang 1957 stellte Heinz Berggruen in seiner Galerie ihre Landschaftsbilder aus. Sie versprach zu kommen. Alle aus der Picasso-Epoche ihres Lebens besuchten die Vernissage und hofften, Dora mal wieder zu treffen. Dora Maar kam nicht. Menschen waren ihr fremd geworden. Ihren Gemälden habe man diese Einsamkeit angemerkt, meinte Berggruen, der sie eben in »allen Höhen und Tiefen ihres Lebens für einen Teil des Planeten Picasso« hielt. Dora Maar sah das, gebrochen zwar, aber unbeugsam zeitlebens anders: »Mein Schicksal war wunderbar, wie es auch aussehen möge.« Sie werden seit Heinz Berggruens Tod im Februar 2007, fast zehn Jahre nach ihrer letzten Begegnung in Ménebres, darüber unendlich lange reden können – wo auch immer das sein mag.