Neulich diskutierte ich mit einer Kollegin über Gewaltszenen in der Fernsehserie Game of Thrones. Dass uns beiden nur zwei Beispiele einfielen (flüssiges Gold über den Kopf! Inzestuöse Vergewaltigung in der Krypta!), hinderte uns nicht daran, etwa zehn Minuten zu verschwafeln: Die Serie hält sich ja wohl sehr eng an die ebenso blutrünstigen Buchvorlagen, bei den Sopranos hatte die Gewalt noch soziale Relevanz, das Fantasy-Genre müsste sich ganz neu erfinden… Dann wussten wir nicht weiter. »Du schaust die Serie auch nicht, oder?«, fragte meine Kollegin.
Es war ein seltener Moment der Klarheit. Nein, ich schaue die Serie nicht, aber ich weiß genug über sie aus den Anreißern von Twitter-Links und Facebook-Posts, um eine Meinung über sie zu haben. Und über tausend andere Dinge. Durch mich fließt ein nicht abreißender Info-, Anreißer- und Teaser-Strom, der mein früheres Halbwissen durch ein Fake-Wissen ersetzt hat: Überall rede ich mit, denn das Internet, insbesondere der Social-Media-Feed, ist ein fortlaufender, sich ständig selbst aktualisierender Spickzettel.
Etwa für Bestseller, über die alle reden. Allen voran für den nicht wegzukriegenden »Hundertjährigen, der aus dem Fenster usw. usf.«, ja, mein Interesse reichte nicht einmal dafür, den Titel zu Ende zu lesen. Ich weiß nicht genau, warum – vermutlich eine vage Abneigung gegen Gaunerkomödien und Ritte durch die Weltgeschichte (und all den glühenden Empfehlungen entnehme ich seit drei Jahren, dass es sich um Derartiges zu handeln scheint). In diesem Fall habe ich aus Selbstschutz begonnen, kulturelle Kenntnis vorzutäuschen. Denn wenn ich ehrlich sagte: »Nein, ich habe es nicht gelesen, es interessiert mich nicht so richtig«, bekam ich jedes Mal in wenigen Variationen zur Antwort: »Doch, das musst du lesen, das ist so toll, hier, ich schenk’s dir.« Es war einfacher, irgendwann nur noch zu sagen: »Ja, das ist wirklich ein hübsches Buch, liest sich gut weg.« Und dies dann, falls nötig, durch Meinungen anzureichern, die ich auf Grundlage der Erwähnungen des Buches bei Facebook improvisierte: Schelmenroman! Sind das nicht die meisten Bestseller? Altenheimausbruch! Besteht bei skandinavischen Romanen nicht immer die Gefahr der Sozialromantik? Tiefsinniges Zeug. Scheinbar. Ohne je das Buch auch nur aufgeschlagen zu haben.
Am einfachsten ist es beim Tatort. Ich habe seit Manfred Krug und Charles Brauer keinen mehr gesehen, das ist nicht ideologisch oder kulturkritisch begründet, ich gucke am Sonntagabend einfach lieber ins Glas. Sinnlos, das zu erklären. Leichter, nach oberflächlicher Durchsicht des entsprechenden Twitter-Hashtags was mitzuplappern über die Melancholie der Münchner, die Actionlust der Hamburger und die Verschrobenheit der Kieler Ermittler. Ich pflege meinen Ruf als Sibel-Kekilli-Apologet, obwohl ich vor zehn Jahren bei Gegen die Wand eingeschlafen bin und sie seitdem nie wieder in irgendwas gesehen habe. Downton Abbey: Ich kenne keine Folge, aber die vierte Staffel war echt eine Enttäuschung. Im Angesicht des Verbrechens: verpasst, reicht aber fast an die amerikanischen Vorbilder heran, nur leider ist der Ton wahnsinnig schlecht. Joko und Klaas: seit ihrer Zeit bei MTV nie wieder auf meinem Bildschirm, und oft gehen sie zwar echt zu weit, aber das haben Rudi Carrell und Dietmar Schönherr damals auch getan, Zukunft des Fernsehens. Jan Böhmermann: ZDF-neo krieg ich gar nicht rein, aber diese liebevolle Ironisierung des Mediums Fernsehen!
Die Liste ist endlos. Machen Sie Ihre eigene. Denn dass die meisten mitreden, ohne wirklich zu kennen, worüber sie eine Meinung haben, liegt auf der Hand: Die Urteile über aktuelle Popkultur sind einander zu ähnlich, um alle selbst erarbeitet zu sein. Alle finden das Gleiche cool: Breaking Bad, David Foster Wallace, die Bootlegs von Kate Bushs Comeback-Tour – alles als gut gesetzt, ob man’s kennt oder nicht. Das Angebot dessen, worüber man auf dem Laufenden sein müsste oder könnte, ist zu groß, um sich wirklich über alles von Mad Men bis Er ist wieder da ein eigenes Bild machen zu können. Und die Erlebnisse häufen sich, bei denen man das starke Gefühl hat, nur Secondhand-Statements auszutauschen.
Der amerikanische Schriftsteller Karl Taro Greenfeld hat diesem Phänomen in der New York Times neulich einen großen Meinungsartikel gewidmet: »Faking Cultural Literacy«, kulturelles Wissen vortäuschen. Ich weiß davon, weil eine alte Kommilitonin von mir den Link geteilt und zwei Passagen zitiert hat, den Rest lese ich später: »Noch nie war es so einfach, so zu tun, als wüsste man so viel, ohne tatsächlich irgendwas zu wissen. Wir pflücken aktuelle, passende Häppchen bei Facebook, Twitter oder aus E-Mail-News-Alerts und käuen sie dann wieder.« Denn: »Wir alle spüren den ständigen Druck, zu jeder Zeit genug zu wissen, um nicht als kulturelle Analphabeten dazustehen.«
Nun könnte man einwenden, das Phänomen sei so neu nicht: Bis zu Luther und Gutenberg kannten die allermeisten Menschen die Bibel, den maßgeblichen Referenzrahmen ihrer Zeit, auch nur vom Hörensagen. Die größten Teile der menschlichen Kultur beruhen auf mündlicher Überlieferung, auf Verzerrung und eben Wiederkäuen. Aber der Unterschied ist, dass die sozialen Medien nicht nur ein Spickzettel sind, sondern einem im Sekundentakt, mit jeder neuen Twittermeldung, auch wieder eine Aktualisierung des kulturellen Kanons präsentieren. Die besten Bücher des Herbstes, die unverpassbaren neuen Filme, die tiefe Enttäuschung über die neue Judith Hermann, die Alben der Woche, die hundert besten Filme der Woche, die meistunterschätzten CDs der Neunziger, gar nicht zu reden vom grundlegenden, Lebenszeit verschlingenden neuen Mega-Kulturgut US-Fernsehserie, das auch jeden Herbst und jedes Frühjahr wieder ein Dutzend neuer, kulturell überlebenswichtiger Meisterwerke gebiert.
Da einfach mitzulabern, ist Anpassungs- und Vermeidungsstrategie zugleich: bequemer und vielleicht besser für die geistige Gesundheit, als ständig hinterherzuhecheln und sich blöder zu fühlen als der Rest der kulturell interessierten Menschheit. Denn, interessanter Nebeneffekt: Wenn man eine Weile Zweitmeinungen über Homeland beiläufig abgesondert hat, ist man irgendwann überzeugt, die Serie tatsächlich zu kennen. Mir ging es so mit Harry Potter und Herr der Ringe: Jahrelang hatte ich ahnungslos und desinteressiert, nach außen aber informiert und wohlwollend vor mich hin geschummelt, und als es dann, der Kinder wegen, wirklich zum Erstkontakt kam, waren beide Filmreihen genauso, wie ich sie mir vorgestellt und herbeiargumentiert hatte. Nur halt ein bisschen anstrengender.
Aber wie an- und aufregend kann Kultur noch sein, wenn wir zu feige oder schlicht zu faul sind, uns eine eigene Meinung entweder zu erarbeiten oder, vielleicht noch besser, einfach mal die Klappe zu halten? Wenn wir nicht wissen, worüber wir reden? Wie lange kann man etwas wiederkäuen, bevor es jeden Nährwert verliert? An guten Tagen möchte man sagen: Ach, die Welt ist so voll von tollen neuen Dingen wie nie zuvor, ist doch schön, wenn ein bisschen davon bei einem hängen bleibt, und den Rest täuschen wir halt vor. An schlechten möchte man sagen: Wir ersaufen in einer belanglosen Brühe aus Mini-, Mega- und Meta-Hypes, aus Sound-bite-Meinungen und Teaser-Wissen.
Zwei Dinge kann man ausprobieren, wenn einem das alles zu viel wird und man anfängt, sich vor den eigenen Pseudo-Meinungen zu ekeln. Das erste ist Demütigung, humiliation. Dieses Spiel hat der englische Schriftsteller David Lodge vor fast vierzig Jahren in seiner Akademiker-Komödie Ortswechsel beschrieben: Auf einer Party überbietet sich eine Gruppe von Englisch-Professoren darin, zuzugeben, welches unverzichtbare Meisterwerk sie in Wahrheit nie gelesen haben. Den Effekt beschreibt Lodge als erleichternd: Sich auf diese Weise bloßzustellen, ist eine Befreiung von den Zwängen des Kulturdiktats und von der ewigen Verstellung. Facebook wäre ein guter Ort für eine riesengroße Runde humiliation – und das SZ-Magazin beginnt damit gleich an diesem Freitag um zehn Uhr auf Facebook und Twitter, dort unter dem Hashtag #klugscheiner. (Lodges Protagonist gewinnt, als er zugibt, Hamlet nie gelesen zu haben, verliert daraufhin allerdings seine Professur.)
Und zweitens: der Zufall. Was sonst als den guten alten Zufall sollte man den Social-Media-Algorithmen entgegensetzen, deren mathematisch exakte Undurchschaubarkeit überhaupt erst bestimmt, worüber wir Secondhand-Meinungen haben? Das seltsame Buch aus der Ferienwohnung, das vor zwanzig Jahren mal im Gespräch war. Irgendein obskurer Film aus der Konkursmasse Kirch, der nachts um eins auf einem der hinteren Programmplätze läuft. Gute und schlechte Überraschungen gibt es überall, auch nicht mehr oder weniger als bei den aktuellen Hypes. Das Schöne, geradezu Zauberische daran: Man ist endlich wieder ganz allein mit seiner Meinung – und niemandem Rechenschaft schuldig.
Illustration: Bendik Kaltenborn