Der Schrecken der Straße 

Nach Jahrzehnten als Beifahrer haben wir unserem Lieblingsfriseur den Führerschein geschenkt.

Das Archivbild vom September 2002 zeigt den Friseur Gerhard Meir in seinem Salon in Hamburg. Meir war nebenbei Lifestyle-Kritiker für das SZ-Magazin.

Foto: dpa

Oh je, vielleicht hab ich ein bissl zu oft in meiner Kolumne geschrieben, dass ich trotz meiner 46 Jahre keinen Führerschein habe. Es wär mir jetzt wirklich unangenehm, wenn beim SZ-Magazin der Eindruck entstanden wäre, sie müssten mir irgendwie zu einem verhelfen, damit ich mein Leben nicht als ewiger Beifahrer verbringen muss. Als der Anruf kam »Gerhard, wir schenken dir einen Führerschein«, hab ich natürlich erst gesagt: »Ach das ist doch nicht nötig.« Aber gerührt war ich trotzdem. Ich mein, Sie wissen schon, wie das gemeint ist: geschenkt. Ich krieg alles organisiert und bezahlt, aber in die Theoriestunden muss ich schon selbst gehen und die Fahrstunden kann mir auch keiner abnehmen. Trotzdem bin ich gerührt. Denn es stimmt schon: Wenn ich den Lappen nicht bald mache, mache ich ihn nie mehr.

Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater bei einem Autounfall, an dem er unschuldig war. Ich saß auf dem Beifahrersitz und blieb unverletzt. Der Schock, das Bild, die Situation haben sich so tief in mir eingegraben, dass ich nie selbst Auto fahren wollte. Als ich 18 war und alle meine Freunde den Führerschein machten, habe ich es trotzdem versucht. Ich dachte, ich hätte meine Angst überwunden - bis die Fahrprüfung kam. Plötzlich sah ich den Unfall wieder vor meinen Augen. Ich konnte nicht weiterfahren und stieg während der Prüfung mitten auf der Straße aus. So war das.

Und jetzt, 28 Jahre später, habe ich die Rita Reuter getroffen. Das heißt, ich hab sie eigentlich wiedergetroffen, aber das hab ich nicht gleich gemerkt. Sie hat eine Fahrschule im Riegerblock am Isartorplatz hier in München. Und ich glaube, wäre sie schon damals meine Fahrlehrerin gewesen, wäre ich nicht mitten während der Fahrprüfung ausgestiegen. Bei der Rita Reuter brauchst keine Angst zu haben. Und wissen's was: Die hat mich wiedererkannt! Gleich in der ersten Theoriestunde hat sie mich gefragt, ob ich nicht damals als junger Bursche in dem Salon Evi in der Schulstraße am Rotkreuzplatz gearbeitet hab. Hab ich - und Rita Reuter war meine Kundin. Sie sagt: »Ich war da nämlich immer bei Ihnen zum Haareschneiden, da war ich mit meiner Tochter schwanger. Ich kann Ihnen sogar noch Bilder von meiner Frisur zeigen.« Also, wenn einen so was nicht freut. Und als sie dann auch noch sagte, dass ich noch fast exakt so ausseh wie damals, beschloss ich, bei der Frau so lange Fahrstunden zu nehmen, bis ich die Touringreife habe.

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Ich weiß schon, irgendwann bringt mich meine Ungeduld noch mal um, dabei gab sich die Rita in meiner ersten Theoriestunde wirklich alle Mühe, uns vier Fahrschülern die Verkehrsregeln am Bahnübergang beizubringen. Aber was soll man schon antworten auf die Frage, was »mit reduzierter Geschwindigkeit heranfahren« bedeutet. Na, langsamer werden halt. Könnte man doch auch gleich so sagen, oder? Sicher, Frau Reuter muss genau sein, was die Terminologie angeht, sonst verhau ich mich später in der Theorieprüfung. Haarklein erklärt sie die Beschilderung am Bahnübergang: die dreistreifige Barke. Jeder Streifen bedeutet achtzig Meter Entfernung zum nächsten Bahnübergang. Auf jeden Bahnübergang weist erst eine drei-, dann eine zwei- und schließlich eine einstreifige Barke hin. Ich bin nicht nur ungeduldig, sondern auch vorlaut. Fragt Frau Reuter: »Was kommt also nach der einstreifigen Barke?!« Sag ich: »Na ja, der Bahnübergang halt.« Sagt Frau Reuter: »Nein, das Andreaskreuz.« Sag ich: »Aber das steht doch am Bahnübergang.« Ist doch so, oder? Wussten Sie, dass es von Seiten des Gesetzgebers keine Höhenbeschränkung für Fahrzeuge gibt? Ich darf einen Heuwagen zehn Meter hoch beladen. Allerdings müsste ich dann darauf achten, dass die Gleise am Bahnübergang nicht elektrifiziert sind, denn sonst würde ich in der Oberleitung hängen bleiben. Ganz schön kompliziert, das alles.

Wenn es nach mir ginge, dürften Fahrschüler in ihrer ersten Stunde grundsätzlich nur auf völlig leeren Straßen fahren 

Endlich darf ich ans Steuer. Die Rita fährt mit einem VW-Kombi aus der Tiefgarage vor, Automatik. Da hammas: ein Auto für den unsportlichen Fahrer. Aber eigentlich ist mir das auch egal. Ein Auto soll fahren, bremsen, fertig. Ich schlage meiner Fahrlehrerin gleich mal vor, mehrere Fahrstunden zusammenzulegen, dann könnten wir einen netten Kurztrip nach Salzburg machen, ein Kaffetscherl trinken und wieder heimfahren, und so hätten wir alle was davon. Sie sagt erst gar nichts zu dem Vorschlag, vielleicht weil es schon auf sechs zugeht.

Ich muss den Sitz einstellen, Spiegel einstellen, na, Sie kennen das ja alles, aber für mich ist das neu und aufregend. Dann darf ich den Motor anlassen, brrrrm, schon ein tolles Gefühl. Die ersten Meter, zugegeben, fahr ich ein bissl Schlangenlinien und die Rita gibt mir den Tipp, nach der Kurve das Lenkrad doch wieder loszulassen, weil es dann von ganz allein in die Ausgangsposition zurückdreht, aber ich trau mich nicht so recht, das ist doch sonst wie freihändig fahren mit dem Radl. Am Reichenbachplatz muss ich zum ersten Mal bremsen, geht gut, vielleicht ein bissl zu abrupt. Dann in der Linkskurve greift die Rita mir ins Lenkrad, ich weiß auch nicht recht, was ich da schon wieder falsch gemacht haben soll.

Müllerstraße, dann rechts rum und am Hochhaus der Stadtverwaltung vorbei, ach, ist das ein Spaß und das Auto macht tatsächlich, was ich will; im Rückspiegel hab ich den Verkehr voll im Griff, viel kann nicht mehr fehlen, bis ich ein Vollprofi bin. Jetzt am Viktualienmarkt vorbei, mei, sind da viele Leute unterwegs. Wenn da auch Kunden von mir dabei sind und die mich so sehen, würden die sich ja totlachen. Aber die Rita hat sogar für diesen Notfall einen Rat und meint nur: »Dann machen Sie halt die Sonnenblende runter.« Mach ich aber gar nicht, hab ich ja nur so vor mich hingesagt, ich red halt gern.

An der roten Ampel beim Isartor bremse ich schon so sanft, wie wenn ich nie was anderes gelernt hätte, doch dann geht's mir nass rein. Ich mein, gleich in der ersten Fahrstunde über den Thomas-Wimmer-Ring, die Maximilianstraße queren und dann zackbumm rechts in die Prinzregentenstraße. Und das am Freitagabend im Berufsverkehr. Wissen Sie überhaupt, wie viele Autos da unterwegs sind? Und ich soll mich da einfädeln, die Straße ist bestimmt sechsspurig und von links kommen Autos aus dem Tunnel am Haus der Kunst. Wie soll ich denn da reinkommen? Was mach ich denn jetzt? Nein, die Rita greift mir ausgerechnet in diesem Moment nicht ins Lenkrad, obwohl ich's wirklich brauchen könnte. Sie meint nur: »Das Schnaufen nicht vergessen.« Stimmt, sie kennt ihre Pappenheimer, ich atme tief durch. Ich sag: »Also, da hab ich trotzdem ein bisserl Angst jetzt.« Und sie fragt: »Wovor?« Und ich sag: »Na, vor all den anderen, die da kommen.« Und sie sagt: »Das braucht uns gar nicht zu stören.« Ja, die Rita vielleicht nicht, aber mich! Wenn ich was zu sagen hätte, dann würde ich anordnen, dass ein Fahrschüler in seiner ersten Stunde grundsätzlich nur auf vollkommen leeren Straßen fahren darf. Freilich, das mit den Absperrungen wäre ziemlich schwierig, aber gleich in die Prinzregentenstraße einfädeln zu müssen - vor einem tausend Autos, hinter einem auch -, kann schließlich auch nicht die Lösung sein.

Endlich hammas gschafft, ich fahr rauf zum Friedensengel, ganz langsam um die enge Kurve, schau noch mal zur Rita, um mich zu versichern, dass sie mir schon helfen würde, wenn ich nicht weiterweiß, aber sie sagt: »Ich mach gar nix, ich kann was machen - wenn es sein muss...« Villa Stuck, rechts rein in die Ismaninger Straße... »Solang ich mich nicht aufrege, brauchen Sie sich auch nicht aufzuregen.« Ich hab meine Ruhe wieder gefunden und mach des jetzt alles ganz relaxed. Doch die Rita baut noch eine Schikane ein, vielleicht weil ich in aller Bescheidenheit so souverän fahre, und ich muss nach dem Wiener Platz den Berg am Gasteig runter. Aber alles easy. Am Deutschen Museum wieder eine rote Ampel. Mit dem Bremsen ist die Rita nicht zufrieden: »Das war jetzt eine progressive Bremsung, erst sanft, dann energisch. Normalerweise macht man das andersrum, erst kräftig und dann weich, um ohne Ruck zum Stillstand zu kommen.«

Jetzt noch auf einen Schlenker ins Lehel. Aus der engen Liebherrstraße abbiegen in die Thierschstraße. Mei, da sieht man ja gar nix. Von links lauter Radler. Langsam in die Kreuzung reintasten. Geht doch super. Vor der Tiefgarage hilft mir die Rita noch beim Vorwärtseinparken, ich stelle die Automatik allein auf »P«, »Parken«.

Licht aus, Schlüssel umdrehen, Lenkradschloss einrasten. Das war die Hammernummer schlechthin. Ich hab eine neue Aufgabe, ehrlich: Ich mach den Führerschein, das hab ich mir geschworen. Und das Schönste ist: Meine Angst ist weg, weg, weg.