SZ-Magazin: Sie bitten seit Jahren jeden Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS, ein Tagebuch zu führen. Wie oft schreiben die Raumfahrer?
Jack Stuster: Tatsächlich fast jeden Tag. Das Schreiben dient auch als Ventil für Frust, Probleme und Sorgen. Was die Astronauten mir schreiben, würden sie nie der Crew oder der Bodenstation erzählen, um die gute Stimmung und die Beziehungen nicht aufs Spiel zu setzen.
Haben Sie ein Beispiel?
Oft geht es um Spannungen zwischen Crew und Bodenstation über Zeitpläne. Einer schreibt: »Stell dir vor, du musst eine Packung M&Ms nach Farben in kleine Säckchen sortieren. Auf der Erde dauert das fünf Minuten. Hier oben eine Stunde.« Die Leute in Houston haben oft keine Ahnung, wie lange es dauert, bestimmte Dinge in einer beinahe schwerelosen Umgebung zu tun. So gerät die Besatzung bei jeder kleinen Aufgabe in Rückstand. Gerade für Menschen, die so zielstrebig sind wie Astronauten, die unter allen Umständen perfekt arbeiten wollen, muss das unerträglich sein.
Sie veröffentlichen diese Kritik anonymisiert.
Ja. Mein Versprechen an die Astronauten lautet: Nur ich kann die Original-Tagebücher lesen. Ich lösche nicht nur Namen, sondern auch konkrete Tätigkeiten. Was ich veröffentlichen will, lege ich den Teilnehmern vorab vor. Nur ein Einziger hat sich gemeldet und eine Zeile gestrichen, weil er meinte, sein Sprachmuster sei erkennbar. Ein anderer hat vorgeschlagen, zwei Stellen zu entfernen, wo ein Kollege sich darüber beschwert, dass es zu wenig zu essen gibt.
Die Astronauten hatten Hunger?
Der Lebensmittel-Nachschub war nach dem Absturz des Space Shuttles Columbia im Jahr 2003 ein großes Thema, denn die Shuttles haben immer den Nachschub gebracht. Am Ende war die ISS-Crew bei Fruchtsaft und Crackern angelangt, mehr gab es nicht mehr. Einer schrieb: »Es ist sicher nicht schlecht, ein paar Kilo abzunehmen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man das möchte oder ob man dazu gezwungen wird.« Als dann an Heiligabend endlich Nachschub mit einem russischen Shuttle kam, wurde die Stimmung sofort besser.
Sie waren vor dreißig Jahren einer der Ersten, der die Raumfahrt nicht nur aus technischer, sondern auch aus psychologischer und gruppendynamischer Sicht betrachtet hat. In Ihrem Buch Bold Endeavors von 1996 untersuchen Sie die historischen Polarexpeditionen rund um 1900 und leiten daraus Empfehlungen für eine mögliche Mars-Mission ab. Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich war nicht der Erste, der darauf hinwies, ich habe es bloß als Erster systematisch untersucht. Es ging mir um Bedingungen, die interplanetaren Reisen ähneln: Menschen, die über lange Zeit isoliert waren, auf engem Raum, in einer fremden, lebensfeindlichen Umgebung. So kam ich auf Seefahrer und Polarforscher. Aber ich habe auch Ölbohrplattformen, antarktische Forschungsstationen, U-Boote und Hochsee-Fischkutter untersucht, wo ebenfalls wenige Menschen auf engem Raum isoliert sind.
Sie stießen damit anfangs bei der NASA auf wenig Interesse. Warum?
Die Astronauten der damaligen Shuttle-Missionen glichen eher Kampfpiloten als historischen Entdeckern. Die Missionen dauerten nur ein paar Wochen. Das hat sich geändert, als die ersten Amerikaner zur russischen Raumstation MIR flogen, lange bevor es die ISS gab. Die haben nach ihrer Rückkehr berichtet, dass es ein qualitativer Unterschied ist, ob man zwei Wochen mit einem Shuttle fliegt oder monatelang auf einer Raumstation lebt. Einer meinte: »Das eine ist wie ein Sprint, das andere wie ein Marathon.« Es hat mir die Tür geöffnet, dass diese Erkenntnis direkt aus dem Astronauten-Korps kam. Also von innen.
In Bold Endeavors beschreiben Sie Menschen, die an der Isolation zerbrechen. Ein Teilnehmer der belgischen Polarexpedition von 1897 beschließt, dass er nun zu Fuß nach Hause geht. In einer antarktischen Forschungsstation erleiden sieben von acht Crewmitgliedern nacheinander einen Nervenzusammenbruch. Droht so etwas auch den Astronauten im Weltall?
Na ja, wir reden hier von Menschen, die ein jahrelanges Training absolviert haben. Wer auf eine Mission zur ISS aufbricht, hat bereits in der Vorbereitung bewiesen, dass er unter extremen Bedingungen leben kann.
Unter Astronauten gilt Ihr Buch heute als Standardwerk.
Wir haben es mittlerweile als E-Book veröffentlicht und zur ISS hochgeladen. Bevor das passiert ist, wollte ein Astronaut es unbedingt physisch zur ISS mitnehmen, doch es wog zu viel. Am Ende jedes Kapitels gebe ich Empfehlungen an die NASA und die Crews. Diese Seiten hat sich der Astronaut kopiert und mitgenommen. Eine davon hat er mir danach geschenkt. Ich hüte diese Buchseite wie einen Schatz – sie war im Weltraum!
Ihre wichtigste Empfehlung?
In der Isolation können Kleinigkeiten zu großen Konflikten führen. Scheinbar banale Dinge vergrößern sich wie unter einem Mikroskop. So wird etwa Essen zu einer zentralen Quelle der Befriedigung und Entspannung. Man verbringt mehr Zeit damit. Und man isst mehr. Die Empfehlung lautet: Achten Sie auf gutes Essen!
Was essen Astronauten am liebsten?
Tortillas. Alle Astronauten lieben sie – nicht nur, weil sie nahrhaft sind. Im Weltraum schwebt einem das Essen gern davon. Man kann also nur geleeartige oder feste Substanzen anbieten. Erbsen könnte man nicht essen. Eine Tortilla ist so toll, weil sie alles zusammenhält, bis man sie in den Mund steckt. Solche Kleinigkeiten sind wichtig.
Sie empfehlen auch, Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen.
Das wusste schon Fridtjof Nansen, der berühmte norwegische Polarforscher. Auf seiner Polarexpedition 1896 aßen alle zusammen an einem Tisch, Matrosen, Offiziere, Wissenschafter. Das war neu. Ich halte die Organisation seiner Expeditionen bis heute für ein Vorbild für interplanetare Reisen. Aber auf der ISS musste jeder Astronaut jahrelang für sich allein essen. Es gab zu wenig Platz und keine Möglichkeit, mehrere Mahlzeiten gleichzeitig zuzubereiten.
Das ist heute anders?
Ja. Ich hatte das 1986 in einer ersten Studie über Raumschiffdesign vorgeschlagen. Bei der Vergrößerung der ISS vor zehn Jahren wurde es umgesetzt. Während meiner ersten Tagebuchstudie berichteten die Astronauten, sie hätten fast jeden Abend gemeinsam mit ihren russischen Kollegen zu Abend gegessen – was sehr gut für die Stimmung war. Mittlerweile ist die Raumstation aber so groß geworden, dass das nicht mehr möglich ist. Eine sechsköpfige Crew isst vielleicht einmal die Woche zusammen. Manchmal vergehen mehrere Tage, ohne dass die amerikanischen und die russischen Crews sich überhaupt begegnen.
Auch nicht gerade gut für die Stimmung, oder?
Vor dem Abflug müssen die Astronauten Fragebogen ausfüllen über ihre Erwartungen und Ziele. So gut wie alle nennen als erste Priorität, gut mit ihren Kameraden auszukommen. Die wissen genau, wie wichtig das ist. Der Ukraine-Konflikt beispielsweise ist etwas, was das Zusammenleben auf der ISS beeinträchtigen könnte: Die Amerikaner informieren sich ausschließlich bei US-Medien, die Russen natürlich bei russischen Sendern. Es herrschen da oben komplett unterschiedliche Auffassungen darüber, was gerade auf der Erde passiert. Aus den Tagebüchern weiß ich, dass zumindest die Amerikaner daraus nur einen Schluss ziehen: Dieses Thema wird nicht besprochen, es wird totgeschwiegen. Ich halte das für eine reife, erwachsene Entscheidung.
Abgesehen vom Essen: Was machen Astronauten, um sich die Zeit zu vertreiben?
Fotos von der Erde. Das ist die mit Abstand häufigste Freizeitbeschäftigung auf der ISS. Man schwebt dazu nach unten zur Beobachtungskuppel. Das ist Disneyland für Erwachsene. Es ist die therapeutischste Tätigkeit, die man sich vorstellen kann.
Die Erde zum ersten Mal von oben sehen – ist das eine Erfahrung, die die Astronauten in den Tagebüchern beschreiben?
Ja. Alle haben das Gefühl, dass sie danach verändert sind. Erstens: Sie sehen keine Grenzen. Wir wachsen ja mit Karten und Globen auf, auf denen Staaten eingezeichnet sind. Wenn du die Erde von oben siehst, ist da aber nichts – vielleicht abgesehen davon, dass Nordkorea nachts stockdunkel ist. Die Astronauten bekommen plötzlich das Gefühl, dass es nicht um ein Land, sondern um eine Spezies geht. Das verändert jeden. Zweitens: Sie sehen, wie verdammt winzig die Atmosphäre ist. Man macht sich das auf der Erde nicht klar, aber es ist nur eine ganz dünne Schicht, die uns vor dem sofortigen Tod bewahrt, dünn wie die Außenwände der ISS. Manche beschreiben es so, dass sie die Erde plötzlich als ein Raumschiff wahrnehmen. Wir alle sind die Crew.
Was tun die Astronauten sonst in Ihrer Freizeit?
Es gibt eine Auswahl an Fernsehprogrammen, es gibt Musik, Bücher, Filme, regelmäßige Videoschaltungen zu Familien oder zu Prominenten, die sich die Astronauten aussuchen dürfen. Einer der häufigsten ist übrigens William Shatner – das ist immer sehr rührend, wenn der berühmteste Raumschiffkapitän der Geschichte sich erkundigt, wie es im Weltraum so ist.
Was ist mit Brettspielen?
Schach ist sehr beliebt, vor allem wenn Astronauten gegen Houston spielen.
Sie haben einmal vor dem Spiel Risiko gewarnt. Warum?
Dazu muss ich ausholen: Ich habe einmal eine militärische Simulation begleitet, 1989, im Kalten Krieg. Die Sowjetunion hatte Interkontinentalraketen auf Zügen platziert, die USA wollten als Antwort darauf 25 Züge mit Sprengköpfen ausstatten, die immer in Bewegung sein sollten. Das Projekt hieß Missile X – eine furchtbar zerstörerische Sache. Einer der Ingenieure hatte meinen Raumschiffdesign-Report gelesen und mich angerufen. Sie haben die Kabinen nach meinen Empfehlungen gestaltet – so gab es etwa vier Mikrowellenherde, damit die Besatzung eines Zuges zusammen essen konnte. Dann gab es eine 32-tägige Simulation: Vier Soldaten lebten in so einem Zug und probten den Dritten Weltkrieg. Um sich die Zeit zu vertreiben, spielten sie Brettspiele. Sie haben sich aber bei Risiko – was ja ironischerweise ein Spiel über den Dritten Weltkrieg ist – so heftig zerstritten, dass sie selbst entschieden, das Spiel zu verbannen. Dann blieben nur noch Filme. Der Renner war Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit mit Keanu Reeves.
Der beliebteste Film auf der ISS?
Das ist immer noch 2001: Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick. Mittlerweile können die ISS-Astronauten auch fernsehen, während sie auf dem Ergometer sitzen, so wie in Fitnessstudios. Einer hat vor Kurzem innerhalb weniger Tage alle Breaking Bad-Folgen geschaut. Er war richtig traurig, als die Serie vorbei war.
Manche Einträge, die Sie in Ihrer Studie zitieren, klingen besorgniserregend. Einer schreibt: »Ich will nicht von einer Depression sprechen. Aber es gibt nichts, was mich aufmuntern kann.« Ein anderer: »Ich kann nicht glauben, dass andere Astronauten nicht so frustriert waren, wie ich es hier bin. Vielleicht sagen die es einfach nicht.«
Die stammen aus der Phase, in der nur zwei Astronauten auf der ISS waren und es viel weniger zu tun gab. Auch das kann man von den Polarfahrern lernen: Langeweile ist der größte Feind des Entdeckers. Der Norweger Roald Amundsen nahm für seine Expedition in der Nordwestpassage 1903 keine Taschenmesser mit, sondern Material, um Taschenmesser selbst zu bauen. Damals auf der ISS waren die Hauptaufgaben Instandhaltung und Inventur – also etwa Glühbirnen zählen. Es gab kaum wissenschaftliche Projekte. Heute ist die Arbeitsbelastung so hoch, dass man einfach keine Zeit hat, sich kurz rauszunehmen und traurig zu sein. Ich halte das übrigens für ziemlich bezeichnend, gerade wenn man über eine Mars-Mission nachdenkt.
Wie meinen Sie das?
Stellen Sie sich vor, Sie fahren in einem Wohnmobil quer durch die USA, zusammen mit fünf anderen Menschen, drei Jahre lang. Sie können nur ein einziges Mal nach draußen, nach genau anderthalb Jahren, dafür müssen Sie sich in einem unglaublich unbequemen Raumanzug bewegen. Dann geht es wieder nach drinnen, und Sie fahren noch einmal anderthalb Jahre in diesem Wohnmobil. Sie haben schon alle Geschichten und Witze der fünf Mitreisenden gehört, bevor sie überhaupt eingestiegen sind – weil es vorher ein jahrelanges Training zusammen gab. Sie wissen also alles über jeden, Sie kennen die kleinsten Eigenheiten jedes Einzelnen, auch die, die Sie zum Wahnsinn treiben. Und Sie können dem nicht entfliehen.
Wer bitte hält so etwas aus?
Das Interessante ist, wie sehr sich die Anforderungen gewandelt haben. Genau die Menschen, die sich üblicherweise von Astronautenprogrammen angezogen fühlten, eignen sich nicht dafür. Das sind sehr aktive Menschen, die es lieben, draußen Dinge zu tun, sie springen Fallschirm, gehen tauchen. Für eine Mars-Mission braucht man jemanden, der denselben Film drei- oder viermal sehen kann und immer noch Spaß daran hat. Trotzdem brauchen Sie Alpha-Persönlichkeiten, die autonom Entscheidungen treffen können. Denn auf dem Mars wird es mehr als zwanzig Minuten brauchen, bis eine Sprachnachricht bei den Astronauten ist, und ebenso lange, bis die Antwort auf der Erde ist. Houston kann nicht mehr eingreifen, wenn etwas schiefgeht.
Würden Sie persönlich fliegen?
Es gab eine Zeit, da hätte ich sofort Ja gesagt. Heute glaube ich, man braucht Menschen, die keine Kinder haben. Ich habe in einer Publikation vorgeschlagen, Ehepaare zu schicken. Drei Paare zum Beispiel, alle drei kinderlos. So müsste niemand den Menschen zurücklassen, den er am meisten liebt.
Jeder, der einmal in einem Pärchen-Urlaub war, wird seine Zweifel an dem Konzept haben.
Klar. Aber man wählt nicht einfach spontan ein Paar und sagt, ihr kommt mit. Es gibt ein sechsjähriges Training, in dem auch Isolation simuliert wird. Jeder Konflikt, der zwischen denen entstehen könnte, wäre während dieser Zeit schon aufgetreten. Als Verhaltensforscher weiß ich: Der beste Weg, künftiges Verhalten zu prognostizieren, ist, sich vergangenes Verhalten anzusehen.
In Ihren historischen Beispielen in Bold Endeavors sind nur Männer in der Isolation. Was hat sich geändert, seit Frauen dabei sind?
Ich habe einmal den Kommandanten der US-Präsenz in der Antarktis interviewt. Das war ja lange ein rein männlicher Kontinent, auf keiner Station gab es Frauen. Er sprach von einem »zivilisierenden Effekt«: Die Anwesenheit einer einzigen Frau hat die persönliche Hygiene, die Umgangsformen, die Sprache und den Alkoholkonsum der Männer völlig verändert. Dadurch sind Arbeitsleistung und Performance enorm gestiegen.
Fotos: NASA, privat