Solche Momente hassen Supermarktkassierer: Kurz vor 20 Uhr, eine lange Schlange genervter Kunden, und kein Kollege hat Zeit für Kasse 2. Ich bin an der Reihe, stecke meine EC-Karte in das Lesegerät, will mit der rechten Hand gerade die erste Zahl eintippen, da wirft der Kassierer seinen Kopf in den Nacken und starrt zur Decke. Ist da was?, denke ich und folge seinem Blick. Aber kein Fleck, kein Tier da oben, nur weiße Wand. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass der Kassierer mich aus dem Augenwinkel ansieht. »Geheimzahl, bitte!«, sagt er. Ach so.
Ich kenne dieses demonstrative Wegsehen, wenn man in Geschäften mit Karte zahlt, aber dieser Mann schaut wirklich senkrecht nach oben. Erst als ich fertiggetippt habe und anfange, die Einkäufe einzupacken, blickt er wieder geradeaus. Mitten im größten Feierabendstress gibt sich der Mann so eine Mühe, nur um den Eindruck zu vermeiden, er würde meinen Code ausspionieren. Dabei schirmt doch ein Blickschutz aus Plastik das Eingabefeld ab, zudem ist es ohnehin schwierig, aus der Entfernung eine schnell getippte Zahlenkombination zu erkennen, drittens nützt ihm die Nummer nichts, wenn er mir nicht zusätzlich die Karte aus der Hand reißt. Gerade weil es gar nicht nötig ist, finde ich es rührend, dass der Kassierer sich so verrenkt.
So viel vornehme Diskretion kennt man eben nicht mehr, in Zeiten, wo einen jeden Tag E-Mails von Absendern wie »deutsche-bank@gmail.com« erreichen, die darum bitten, kurz zu Testzwecken seine Geheimzahl mitzuteilen. Und am Geldautomaten warnt die echte Sparkasse vor falschen Kartenlesegeräten, die Betrügerbanden nachts anschrauben. Pistolen, Masken, dunkle Gassen? Nicht mehr nötig, der Geldraub war nie so gemütlich durchführbar wie heute: Trojaner spionieren einen beim Onlinebanking auf dem Laptop aus, Hacker verkaufen ausgelesene Kreditkartendaten in Zehntausendersätzen. Die Digitalisierung nimmt kaum mehr Rücksicht auf Privatsphäre – Funkmasten melden jeden unserer Standorte, den Rest geben wir bei Facebook selber preis.
Nur dieser letzte Moment ist allen heilig: das Eintippen von Geheimzahlen oder Passwörtern. Wenn ich am Computer des Kollegen einmal mein Passwort eingeben muss, dreht sich der garantiert zur Seite. Jeder noch so grummelige Taxifahrer schaut selbstverständlich zum Fenster hinaus, wenn man mit Karte bezahlt. Über alle Branchen hinweg ist diese Geste üblich, sie muss offenbar Teil der Ausbildung sein, in München wie in Braunschweig, Washington oder Sydney. (Unangenehm übrigens, wenn einem als Kunde mit neuer EC-Karte die ungewohnte PIN mal nicht gleich einfallen will, dann blickt etwa der Barmann schon mal eine Minute über seine Schulter ins Nichts. So eine Minute fühlt sich sehr lang an.)
Meistens sieht der Geldempfänger ja in die andere Richtung, dann wirkt man wie eines dieser Paare im Urlaub, das sich nichts mehr zu erzählen hat. Auf Platz zwei der Wegseh-Orte: der Boden. Kellner kennen vermutlich jeden Parkettkratzer rund um ihre Kasse. Platz drei: der Blick leicht nach oben. Einen Sonderpreis möchte ich der grauhaarigen Kioskbesitzerin auf dem Weg zu meiner Arbeit verleihen: Wenn ich einen Schwung Zeitschriften mit Karte bezahle, setzt sie immer die Lesebrille ab. Ihre Welt verschwimmt, bis ich die Karte herausziehe, dann setzt sie die Brille wieder auf. Nur eine Berufsgruppe widersetzt sich meiner Erfahrung nach öfter dem ungeschriebenen Gesetz: Autobahntankwarte. Die sehen mich immer direkt an. Vielleicht um die Schokoriegel neben dem Lesegerät zu bewachen.
Mein Job bringt es mit sich, dass ich selbst – wo mir Diskretion so sympathisch ist – manchmal indiskret sein muss. Wenn verzweifelnde Leser anrufen, weil sie sich nicht mehr auf sz-magazin.de einloggen können. Dann versuche ich herauszufinden, ob der Fehler beim Computer des Anrufers liegt oder in unserem System. Dafür frage ich: »Würden Sie mir vielleicht Ihr Passwort verraten?« Ich fühle mich dabei wie ein Spanner. Deshalb sage ich immer dazu: »Ich vergesse es auch sofort wieder!« Der gesprochene Blick zur Decke.
Illustration: Bendik Kaltenborn