Ein Mann bekennt Narbe

In vielen Studentenverbindungen ist das Fechten Pflicht. Aber keiner hat sich so oft zusammensäbeln lassen wie Alexander Kliesch. Wir fanden: Mit dem Mann musste mal jemand reden.

Die Oberlippe wurde ihm in Wien zerschnitten, das weiß er noch. Die Narbe über dem rechten Ohr ist aus Berlin. Alexander Kliesch tippt sich an seinen rasierten Kopf wie auf eine Landkarte. Dann zeigt er auf die linke Hälfte seines Schädels. »Aber da?«, sagt er. »Keine Ahnung. Da blute ich nicht mal mehr, da wurde ich wohl zu oft getroffen.« Die meisten Menschen können sich an jede Narbe, die sie haben, genau erinnern, bei Alexander Kliesch, 52, einem Bauunternehmer aus Berlin, sind es einfach zu viele.

Niemand in Deutschland hat mehr Mensuren gefochten als er: 66 sind es mittlerweile. Ein Rekord, der wehtut. Oder?

»Jeder Boxkampf ist doch gefährlicher«, sagt Kliesch. Er ist ein bulliger Typ mit Glatze und ordentlich Druck hinter der Stimme. Vom ersten Eindruck her würde man ihn tatsächlich eher in einem schwitzigen Boxkeller als im Haus einer Studentenverbindung vermuten. Kliesch ist seit 31 Jahren Mitglied der Landsmannschaft Brandenburg Berlin. Und er ist es anscheinend gewohnt, sich dafür ständig zu rechtfertigen. Man muss ihn nicht mal auf die Klischees ansprechen, er kommt von ganz allein darauf. »Mit meiner Frisur bin ich ja der Prototyp des Rechtsradikalen«, sagt er. »Aber ich bin Mitglied der SPD.«

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Mit Studentenverbindungen ist es heute ein bisschen so wie mit Bibelgruppen oder Schützenvereinen: Menschen, die darin engagiert sind, gelten bestenfalls als schräg. Und Kliesch ahnt wohl, dass er mit seinen Narben, den sogenannten Schmissen, schnell für den Größten unter all den Spinnern gehalten wird. Jede Unterhaltung mit ihm ist auch ein Anrennen gegen seine Verteidigungshaltung.

»Schau dir die Jungs am Tresen an«, sagt er. Im Verbindungshaus seiner Landsmannschaft im tiefen Berliner Westen ist an diesem Abend Kneipe. Auf den Barhockern sitzen ein paar Studenten, sie tragen Jeans, manche Turnschuhe. »Die sehen doch ganz normal aus.« Dann zeigt er auf ein Poster, das an der holzvertäfelten Wand hängt. Es ist die Ankündigung für einen Fechtkampf gegen eine andere Verbindung. Auf dem Poster ist eine Packung Tampons zu sehen, darüber steht der Satz: »Die Geschichte der Mensur ist eine Geschichte voller Missverständnisse.«

»Das haben unsere Jungs selbst gestaltet«, sagt Kliesch, lacht und schaut einen auffordernd an, ob man nicht mitlachen will.

Der Ursprung der Mensur geht auf das klassische Duell zurück, den oft tödlichen Kampf zweier Männer, die ihre Ehre verletzt sahen. In studentischen Kreisen wurde schon seit dem 19. Jahrhundert nur noch mit Schutzkleidung gefochten. Es ging nicht mehr um Leben und Tod, auch nicht um die Ehre; stattdessen standen der Ruf der Verbindung und das Ritual an sich bei den Fechtpartien im Mittelpunkt.

»Das verstehst du besser, wenn du es siehst«, sagt Kliesch, springt auf und führt in den Paukraum. Etliche Wörter aus der Verbindungswelt haben es in den allgemeinen Sprachschatz geschafft, Pauken bedeutet Trainieren. Kliesch zieht sich dafür einen wattierten Mantel und einen Schutzhelm über; bei offiziellen Mensuren tragen die Kontrahenten Kettenhemd und eine schwarze Brille mit Nasenschutz, mit der sie aussehen wie ein böser Vogel oder ein Bandmitglied von Rammstein. Anders als beim olympischen Fechten bleiben die Kontrahenten bei der Mensur stehen und bewegen nur den Schlagarm, das Ziel mit dem scharfen Säbel ist der Kopf. Fünf Mal darf jeder pro Runde zulangen, die meisten Schläge neutralisieren sich, weil Säbel auf Säbel trifft. Nach 30 Runden ist die Partie vorbei, einen Gewinner gibt es den Regeln nach nicht – obwohl natürlich der besser dasteht, der weniger oder überhaupt keine Wunden am Kopf abbekommen hat. Wenn einer schon während des Kampfes zu sehr blutet, bricht ein Arzt die Partie ab. Absolut verboten ist es, einem Schlag auszuweichen, zurückzuzucken, denn bei der Mensur geht es auch um den Mut, im Angesicht des Schmerzes, der da auf einen niedersausen kann, seinen Mann zu stehen.

Kliesch sagt, bei den anderen Verbindungen gelte er als rustikal. Sein Fechtstil erinnert ein wenig an Bud Spencer: Mit kräftigen Schlägen haut er senkrecht von oben auf den Studenten vor ihm ein, der Mühe hat, die Hiebe abzuwehren. »Die Deckung ist mir nicht so wichtig«, sagt Kliesch nach der Partie. Er hat zehn Jahre lang in der ersten Bundesliga Feldhockey gespielt. Als Torwart. Dem Schmerz hat er da schon oft entgegengeblickt.

Dann zeigt er ein paar Fotos von früheren Kämpfen. Auf einem läuft ihm das Blut übers Gesicht. Er lächelt trotzdem, aber was noch bemerkenswerter ist: Unter dem Kettenhemd trägt er lilafarbene Badeshorts. »Ich hatte gerade nichts anderes da«, sagt er. »Natürlich haben die anderen das nicht gern gesehen, aber mir war das egal.« Kliesch ist wie der rebellische Sohn einer feinen Familie, der zum Geburtstag der Oma mit Irokesenschnitt erscheint: ein Punk, der auf die Etikette pfeift. Zur Verbindung ist er als junger Jurastudent über seinen Vater gekommen, der Mitglied war. Eigene Kinder hat er nicht, nur eine Lebensgefährtin. Die findet die Schmisse nicht schlimm, sagt er: »Ich bin ja eh nicht der Hübscheste.«

In der Welt der Studentenverbindungen gilt das Mensurfechten als Charaktertest, als persönlichkeitsbildende Maßnahme. Kliesch aber hält das für Psychokram. Für ihn ist es einfach nur »das letzte große Abenteuer«, ein Extremsport wie Bungee-Jumping. Deshalb macht er immer weiter – und natürlich auch, damit ihm niemand den Rekord wegnimmt, selbst wenn er das nicht laut sagen will. Auf dem zweiten Platz liegt ein Verbindungsbruder aus Halle mit 50 Partien. »Haste mehr, biste mehr – das stimmt schon«, sagt Kliesch. Dann nimmt er einen kräftigen Schluck aus seinem Weißbierglas, während in der Welt da draußen gerade Zehntausende nüchterne Studenten in Fitnessstudios schwitzen.

Fotos: Andy Kania / www.brigitta-horvat.com

Fotos: Andy Kania