Die Mitte des Lebens

Der Hinterhof unseres Autors war jahrelang eine Oase der Schönheit und Geselligkeit. Jetzt wird er kaputtgemacht. Kann etwas so Großartiges nicht einfach mal bestehen bleiben?

Eines der letzten Sommerfeste in jenem Hof – und als ahnten sie ihr Schicksal, lassen die Blüten der Engelstrompete schon ihre Köpfe hängen.

Foto: Matthias Ziegler/Soothing Shade

Diese Geschichte ist so schön und traurig wie das Leben. Ein Happy End hat sie nicht. Ob sie eine Moral hat? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.

Vor zehn Jahren bin ich in eine Wohnung im Münchner Glockenbachviertel gezogen, das Haus denkmalgeschützt, die Isar um die Ecke, im Wohnzimmer ein hundert Jahre alter Kachelofen, es war perfekt. Nur der Hinterhof wirkte, als sei gerade ein Ver­brechen passiert: eine heruntergekommene Werkstatt, ein verwitterter Sandkasten, und immer lag ein zerknautschter Wasserball in einer Pfütze. »Da könnte man was draus machen«, dachte ich und machte natürlich nichts draus. Ab und zu sah man jemanden einen Müllsack in die Tonne stopfen, manchmal verschwand eine Maus in einer Ritze, ansonsten war der Hof öde und leer.

­Dann passierte etwas, von dem ich damals nicht wusste, wie sehr es mein und das Leben aller Menschen in diesem Haus verändern würde: Ein junger Mann mietete die Werkstatt an, ein Musiker und Komponist. Und gelegentlich huschte nun ein Wesen über diesen Hof, saß nachts im Lampenschein, manchmal hörte man ein Hämmern, mal leise Stimmen, mal Musik. Eines Tages hing ein Zettel an der Haustür: Er heiße ­Michael und habe im Hof ein paar Kräuter gepflanzt, Basilikum, Petersilie, Koriander, Rosmarin, wer möge, könne sich gern be­dienen.

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Es war der Beginn einer Metamorphose, die im Rückblick wie ein kleines Wunder anmutet: Michael gelang es, sich diesen Ort anzuverwandeln, ihm Leben einzuhauchen. Er pflanzte wilden Wein, der die Fassade ­hinaufkletterte, zimmerte Pflanzentröge aus alten Brettern, besorgte sich eine Badewanne vom Sperrmüll, setzte Goldfische ein und bastelte ihnen eine Insel, um die sie herumschwimmen konnten. Er staubte hier einen Tisch, dort einen Liegestuhl oder eine alte Lichterkette ab, einmal wuchtete er einen gigantischen Trog aus Bronze in den Hof. »Vom Schlachter«, erklärte er. »Darin wurden früher Tiere ausgenommen.« Er füllte ihn mit Erde und brachte eine gigantische Engelstrompete zum Blühen. Es folgten Stockrosen, Pfeifenblumen, Muschelblumen, riesige Farne, eine Yucca-Palme – unser Hinterhof wurde zu einer urbanen Oase, die so schön war, dass gelegentlich ältere Damen vorbeischauten und eine Tasse Kaffee bestellen wollten, weil sie dachten, es handle sich um ein besonders originelles Straßencafé.

»Ich weiß noch, wie ich ihn damals ansah und spürte: Es gibt etwas Gutes in der Welt«

Michael lud Freunde, Künstler, Musiker und immer wieder uns, seine Nachbarn, ein. Organisierte Tombolas, Theatereinlagen, manchmal klingelte er und drückte mir ein Stück Leberkäse in die Hand. »Probier mal«, sagte er dann, »ist von meinem Lieblingsmetzger.« Wir hielten uns jetzt immer öfter im Hof auf, mal zu zweit, mal zu fünft oder acht, tranken Champagner zum Frühstück, lasen Bücher, unterhielten uns oder schwiegen lange. Morgens wurden Babys gebadet, nachts lief eine Schallplatte mit der Traumschiff-Melodie, immer öfter wagten sich auch meine beiden Katzen nach unten und erschraken, wenn sie dem Hund Butch gegenüberstanden, einem ungarischen Vizsla aus dem fünften Stock. Manchmal saß Michael allein im Hof, mit einer Flasche Bier oder einem Glas Wein. Ohne darüber zu sprechen, hat er uns allen gezeigt, wie das geht: Nachbarschaft, und wie schön und zwanglos das sein kann. Eingeladen hat er nämlich immer alle, und wenn jemand nicht kam, hat er ihn beim nächsten Mal einfach wieder eingeladen. Er hat diesen Ort, den er gemeinsam mit seinem Freund geschaffen hat, Tag und Nacht mit allen geteilt. Irgendwann waren alle dankbar und glücklich und konnten den nächsten Sommer kaum erwarten.

Vor ein paar Wochen ist Michael ausgezogen. Lange war es nur ein Gerücht, dann bekam er die Kündigung per Brief. Das ­Hinterhaus – ein Spekulationsobjekt, das seit fünf Jahren leer steht – wird abgerissen und sein Atelier gleich mit. Gebaut werden Luxuswohnungen, unser Hof wird für die dazugehörige Tiefgarage aufgerissen. Wenige Tage bevor die Bagger anrücken und das ­Gelände plattmachen sollten, bat er mich noch, die Pflanzen zu wässern, sie litten so unter der Hitze. Ich weiß noch, wie ich ihn damals ansah und spürte: Es gibt etwas Gutes in der Welt.

Natürlich veranstaltete Michael am letzten Abend ein großes Fest. Alle waren da, vom Säugling bis zur Rentnerin. Um Mitternacht hielt er eine Abschiedsrede, zweimal musste er schlucken, einmal kamen ihm die Tränen. Am nächsten Tag sah ich, wie er mit einem Transporter die paar Pflanzen, die zu retten waren, in Sicherheit brachte. Und ich weiß nicht, wer oder was schuld an diesem Unglück ist. Der Kapitalismus, sagen manche. Schon möglich, aber die Dinge sind kompliziert und widersprüchlich. Ich weiß nur, dass es traurig ist, ja, dass irgendwas nicht richtig sein kann, wenn etwas, das offensichtlich gut ist und so viele Menschen glücklich macht, nicht einfach so bleiben kann, wie es ist.