Viele Menschen gehen an den freien Tagen um und nach Weihnachten ins Kino. Dies liegt an den populären Filmen, die dann dort laufen (Star Wars, Prinzessinnen, Katzen). Und daran, dass es zu Hause eng ist durch den Baum oder die Verwandtschaft. Aber es ist nicht so einfach, denn: Im Kino setzen sich die Menschen hin. Dies führt zu unerfreulichen psychologischen Phänomenen und zwischenmenschlichen Problemen, von denen es rund um Weihnachten nun wirklich schon mehr als genug gibt.
Es ist sehr unangenehm, wenn im Kino eine Person bereits auf dem Platz sitzt, den man reserviert hat. Dies ist das Worst-Case-Szenario des Kinositzens. Bevor man es analysieren kann, muss man sich jedoch vergegenwärtigen, dass die Probleme schon früher anfangen. Oft gibt es in Kinos, etwa tagsüber, »freie Platzwahl«, was idyllischer klingt, als es ist. Freie Platzwahl bedeutet, dass man, wenn die Vorstellung gut besucht ist, früh da sein muss, weil man sonst in den gefürchteten »Rasiersitzen« in den ersten Reihen fläzen muss und von Adam Drivers Gesichtsarchitektur erschlagen wird wie von einem Monumentalbau.
Wenn die Vorstellung nicht gut besucht ist, bedeutet freie Platzwahl, dass man sich sehr genau überlegen kann und muss, wo man sich hinsetzt, was unweigerlich dazu führt, dass sich am Ende, nachdem man den scheinbar perfekten Sitzplatz gefunden hat, eine Person vor einen Sitz, die eine große Frisur oder Mütze hat (zum Beispiel ein Weihnachtsmann).
Die japanische Psychologin Hiromi Mizuki hat einen Test entwickelt, der einem anhand der Sitzpräferenz im Kino etwas über die eigene Persönlichkeit verrät. Demnach sind Menschen, die am liebsten in der Mitte des Saales in der Mitte der Reihe sitzen, selbstsicher und wissen, was sie wollen und was ihnen zusteht. Menschen, die in der Mitte des Kinos, aber am Rande der Reihe sitzen, sind diskret und wollen niemandem zur Last fallen. Wer ganz vorn am Rand sitzt, ist opferbereit und stellt eigene Bedürfnisse zurück. Wer vorn in der Mitte sitzt, ist belastbar, wer hinten in der Mitte sitzt, ist schüchtern, und wer hinten am Rand sitzt, beobachtet gern andere.
»Ich habe hier reserviert« ist einer der schlimmsten Sätze der deutschen Alltagssprache
All dies mag sein, nützt einem aber gar nichts, wenn man sich als diskreter, zurückhaltender Mensch mit Begleitung zwei perfekte Plätze in der Mitte des Kinos am Rand reserviert hat, und nun sitzen dort bereits andere Menschen. Weil das Kino wenige Minuten vor Beginn erst halb voll ist, haben sie sich umgesetzt oder irgendwohin. Diese auf den Plätzen, die man reserviert hat, Sitzenden sehen eigentlich ganz nett aus, aber jetzt kickt der Deutsche Bahn-Reflex: Würden Sie bitten aufstehen? Ich habe hier reserviert!
»Ich habe hier reserviert« ist einer der schlimmsten Sätze der deutschen Alltagssprache. Diese Privilegiertheit, diese Strenge, so unflexibel und spießig. Man hasst sich dafür, der Satz ist alles, was man nie sein wollte. Aber wenn er nun trotzdem doch auch wahr ist? Wenn man halt, ähem, reserviert hat? Wohin dann mit sich?
Die Leute, die sich da hingepflanzt haben, grinsen frech (freundlich, daber as sieht man schon nicht mehr): Ob man sich nicht woanders hinsetzen könne, das Kino sei doch halb leer, und so könnten sie bei ihren Freunden sitzen oder was auch immer sonst derartige Menschen an finsteren Gründen haben, um einem die Plätze zu rauben.
Nun. Diesen Gedanken hat man sich natürlich auch schon gemacht. Sich woanders hinzusetzen. Ohne was zu sagen. Weil: lässig sein, Fünfe gerade sein lassen. In Italien oder in Kanada oder in Finnland oder wo gerade die coolen Menschen unserer Fantasie leben, sagt sicher auch niemand, äh, sorry, ich hab hier reserviert. Stellt man sich vor. Und sagt dann: Ja, ja, ist okay, stimmt, und vielleicht rutscht einem sogar ein kleines Zwinkern mit raus, nach dem Motto: War eh nicht so ganz ernst gemeint, wer würde so kleinlich sein, auf einer Reservierung zu bestehen. Im Kino! Wo’s noch nicht mal darum geht, die Strecke von Hannover nach München in Ruhe auf ein Plastikwandelement zu starren (Fensterplatz), sondern ja nur um ein paar Stündchen im Dunkeln.
Sobald man sitzt, kommen natürlich (man braucht keine japanische Wissenschaftlerin, um DIESES Phänomen zu kennen) die Leute, die die Plätze reserviert haben, auf die man sich nun ausweichend gesetzt hat. Sie hätten hier reserviert. Ob man mal bitte. Und so weiter.
Diese nächste Runde von Menschen, jene, auf deren Platz man selber sitzt, sind immer deutlich bestimmter aber irgendwie auch berechtigter, als man es selber war. Geht man jetzt zurück zu den anderen und sagt: So, Momentchen mal, sorry, jetzt sind ... also, wo wir saßen ... und jetzt, na ja, klar, ist doof für uns alle, aber könnt ihr mal ... Nee, nee, ja, ja, klar?
Oder bleibt man sitzen und fordert die Neuen auf, auch woanders hinzugehen? Bis so am Ende das halbe oder ganze Kino durcheinanderrutscht und alle viel zu viel diskutiert und gefragt und gebeten haben, obwohl sie gerade davon ja über Weihnachten eine Pause wollten.
Weshalb hier einfach ein für alle mal festzuhalten ist: Wenn alle eine Reservierung haben (Kino mit fester Sitzplatzvergabe), dann setzt euch um des Seelenfriedens aller genau auf den Platz, der auf eurer Karte steht. Wenn nicht alle eine Reservierung haben (Bahn), seid nett zueinander.
Oder wir führen den etwas vergessenen Beruf Platzanweiser*in wieder ein. Aber so, wie das Land drauf ist, wären das kaum die freundlich-burschikosen jungen Frauen aus den Kinderbüchern von früher mit gelblich lichtkegelnden Taschenlampen. Sondern in Crowd Control-Techniken geschulte Männer um die Fünfzig mit Steppwesten und dieser speziellen Art, lange stählerne Stablampen wie Schlagstöcke auf Schulterhöhe zu halten. Und das kann ja nun auch niemand wollen.