Nachdem Ende 2016 die Schauspielerin Carrie Fisher gestorben war, spülte der Zufall einen Tweet des Komikers Stephen Fry in meine Timeline, eines engen Freundes von Fisher. »Sie liebte es, einem die albernsten Geschenke zu machen« schrieb Fry im Gedenken: »Hier die letzten Dinge, die ich von ihr bekommen habe.« Auf dem dazugehörigen Bild waren eine Jane-Austen-Actionfigur und ein »Dick-orette«-Klebepflaster gegen Sexsucht zu sehen.
Ich hatte mich nie groß mit Carrie Fisher beschäftigt, die filmgeschichtliche Bedeutung von Star Wars, der Reihe, die sie in den Siebzigern berühmt gemacht hat, ist mir bis heute suspekt, aber diese Details machten mich zum späten Fan. Wie witzig war bitte diese Frau? Und auch wenn ihr Tod jetzt schon eineinhalb Jahre her ist: Ich kann seitdem nicht genug über sie lesen. Ein Funke aus dem Feuerwerk an Erinnerungen, das Fishers Fans für sie abbrannten, hatte genügt, um die Schauspielerin ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit zu katapultieren. Aus den vielen Nachrufen bastelte ich mir meinen eigenen, eine Art Nachnachruf.
Ich lernte, dass die Frau, die für mich nur Prinzessin Leia gewesen war, eine Königin der Selbstironie war. Ihr autobiografisches Buch hat Fisher, die zeitlebens mit Süchten und Depressionen zu kämpfen hatte, Wishful Drinking genannt. Ihre Urne hatte die Form einer riesigen Prozac-Pille. Ich stieß auch auf ihren Satz, den viele, die ihrer gedachten, zitierten: »Egal wie ich sterbe, über meinen Tod soll es heißen, ich wäre im Mondschein erstickt, stranguliert von meinem BH.« Ich erfuhr vom beklemmenden Hintergrund dieses Zitats: Der Star Wars-Regisseur George Lucas habe beim Dreh des ersten Films 1977 darauf bestanden, dass Fisher unter ihrem weißen Leia-Kleid keinen BH trage. Argumentiert habe Lucas damit, dass sich Brüste im All ausdehnen würden, Leia also an ihrem BH ersticken müsste. Fisher, damals 21, schluckte solchen Lustmolch-Bullshit – und rächte sich Jahre später mit süffisanten Geschichten vom Set, die den Boys-Club um George Lucas nicht gut aussehen ließen.
Klar: Wer Carrie Fisher mochte, wusste diese Dinge bereits, kannte die biografischen Fußnoten, hatte allenfalls Details vergessen – etwa dass Fishers Vater ihre Mutter Debbie Reynolds einst für Elizabeth Taylor verlassen hatte. Und dass sie, die Wortgewandte und Witzige, später als »Script Doctor« Drehbücher korrigierte, auch die von George Lucas. Natürlich könnte man einfach sagen: Bildungslücke! Hättest du dich mal mit dieser interessanten, notorisch unterschätzten Frau beschäftigt. Stimmt. Der RIP-Storm ist die letzte Chance der Banausen.
Doch ich bin nicht allein. Ich kenne etliche, denen es so beim kürzlich verstorbenen Stephen Hawking ging, bei David Bowie oder Roger Willemsen: Eine Freundin erzählte, dass sie von Bowie nicht viel mehr als Heroes kannte. Doch die Trauerwelle im Internet habe sie dazu gebracht, einen Spaziergang zu Bowies früherer Berliner Wohnung zu machen – mit seinen dort entstandenen Alben im Kopfhörer. Ein Kollege sagte, Hawking sei für ihn ein – wenn auch bedeutender – Wissenschaftler gewesen, aber erst Zitate aus seinen Büchern, die er nach dessen Tod bei Facebook gelesen habe, hätten ihn dazu gebracht, endlich Eine kurze Geschichte der Zeit zu lesen.
Wen »muss« man kennen? Und wie gut? Das Internet hat das, was früher Bildungskanon hieß, neu geordnet und auf den gesamten Erdball ausgedehnt. Die Vorstellung von Prominenz gibt es sowieso noch nicht lange, das Wort ist erst seit hundert Jahren in unserem Sprachgebrauch präsent, und seitdem ist die Welt der Stars stetig unübersichtlicher geworden. Exponentiell stieg die Zahl der Menschen, die als prominent gelten, Anfang der Fünfziger- und Sechzigerjahre, als sich die westliche Popkultur globalisierte. Und damit auch die Zahl der Nachrufe.
Nick Serpell, der Nachruf-Redakteur der BBC, hat allein zwischen 2012 und 2016 eine Vervierfachung der Nachrufe seiner Sendeanstalt festgestellt. Sie zählen zu den meistgelesenen Texten auf der BBC-Website. Serpell glaubt, das Bedürfnis, das Werk eines verstorbenen Künstlers in der Retrospektive zu ehren, heiße auch, sich an die eigene Jugend zu erinnern. Es ist wohl die drastischste Ausprägung dessen, was Soziologen »parasoziale Interaktion« nennen: eine Person, die man nur aus den Medien kennt, zu behandeln, als wäre sie ein echter Freund.
Die Graswurzel-Trauer im Netz hat das Gedenken an Stars demokratisiert: Sie bestimmt, wie eines Verstorbenen gedacht wird, welche Aspekte einer Biografie die beherrschenden sind. Bei Fisher war es am Ende nicht ihre Bedeutung als Schauspielerin, sondern die Lesart ihrer Person als schlagfertige Feministin, die offen mit ihren psychischen Krankheiten umging. Sie wird geliebt, auch weil sie es nicht bis in den Olymp geschafft hat. Nick Serpell war von der massiven Anteilnahme nach Fishers Tod überrascht. Er hatte keinen fertigen Nachruf über sie in der Schublade, und dort lagern immerhin 700 vorgeschriebene Texte.