Sie liebt ihn, aber er will keine Kinder. Weil sie ihn liebt und das Leben, das sie mit ihm führt, sehr mag, wäre sie bereit, auf Kinder zu verzichten. Aber sie hat keine Lust mehr, mit ihren Freunden darüber zu reden. Die sagen, mit dem Glitzern der Besser-
wissenden in den Augen, Sätze wie: »Wenn er dich wirklich lieben würde, würde er dir deinen Wunsch nach Kindern erfüllen.« Oder: »Du solltest mal darüber nachdenken, warum du immer an so schwierige Typen gerätst.«
Eine typische Reaktion für unser beginnendes Jahrtausend, in dem die Liebe plötzlich vor allem eines sein muss – vernünftig. Und das bedeutet: zusammen leben, Kinder haben, sich einig sein, dass beide den Müll runtertragen, sich etablieren. Alle anderen Formen der Beziehung wären Zeitverschwendung. Verlorene Liebesmüh. »Jeder, der sich heute auf eine Beziehung einlässt, die ambitionierter, gefährlicher und schwieriger scheint als andere, wird als pathologischer Fall angesehen«, schreibt die amerikanische Essayistin Christina Nehring in ihrem Buch A Vindication of Love, eine Verteidigung der Liebe. Gefühle in der Liebe seien nicht mehr so wichtig wie die Vernunft, sagt sie, das realistische Liebesmodell löst das romantische ab. Dabei, meint sie, könnte es ja gerade »stark und kühn sein, jemanden zu lieben, der einen herausfordert oder an dem man möglicherweise sogar scheitert«. Oder eine Beziehung zu versuchen, die nicht nach dem bewährten Schema funktioniert. So wie es das Paar in dieser Geschichte versucht, das nicht den Alltag teilt und nicht auf Sicherheit setzt, sondern auf die Gegenwart und die gegenseitige Anziehungskraft.
Sie sind Mitte 30 und lieben sich seit drei Jahren. Er leitet eine kleine Filmproduktion, sie ist Physiotherapeutin. Sie gehen zusammen in die Berge, ins Kino und am liebsten immer noch auf Konzerte in kleinen Clubs. Wenn sie in Urlaub fahren, entdecken sie Vietnam oder China und liegen nicht am Strand. Sie sind sich treu, sie leben aber nicht zusammen und haben das auch nicht vor. Sie wohnen in derselben Stadt, aber in verschiedenen Vierteln. Sie teilt eine Altbauwohnung mit einer Freundin, seine Wohnung besteht aus einem sehr großen Raum, nur das Bad ist abgetrennt. Er hasst gesellschaftliche Anlässe. Sie geht gern zu Ausstellungseröffnungen oder Lesungen und hat es aufgegeben, ihn mitzunehmen, weil er dann mit einem langen Gesicht neben ihr steht und sie sich schuldig fühlt, wenn er sich nicht amüsiert. Sie schaut sonntags gern Tatort, er findet Krimis im Fernsehen langweilig. Sie passen zusammen, aber eben nicht in jeder Hinsicht.
Erst neulich haben Freunde geheiratet, wieder so ein Anlass, zu dem sie gefragt wurden: »Und ihr?« Sie war nie versessen aufs Heiraten, die Ehe ihrer Eltern war zerrüttet und dauerte trotzdem so lange, bis die Kinder aus dem Haus waren. Und er, er neigt ja sowieso zur Eigenbrötlerei. Aber im Grunde genommen fühlen sie sich oft so, als dürften sie nicht so leben: Ständig müssen sie sich rechtfertigen. Ihre Freunde wissen genau, wer schuld ist daran, dass ihre Beziehung nicht ideal ist: eindeutig er, der Eremit, der die Verantwortung scheut und ungern Zukunftspläne schmiedet. Streitet sie das ab, ist plötzlich sie die Schuldige, die einfach nicht das Richtige tun will. »Warum trennst du dich nicht endlich?« Dabei sind die beiden ein ganz normales Paar: Sie sind nicht außer sich vor blinder Liebe oder grausam zueinander; er ist nicht doppelt und auch nicht halb so alt wie sie; sie sitzt nicht am Telefon und wartet vergeblich auf seinen Anruf. Aber oft fühlen sie sich so, als würde etwas nicht mit ihnen stimmen.
Obwohl heute alles möglich ist, obwohl Katholiken Protestanten heiraten dürfen, Männer Männer, Frauen Frauen und Akademiker Nichtakademiker, obwohl viele Frauen auf eigenen Füßen stehen und sogar ihre Kinder allein durchbringen, obwohl eigentlich nur noch die Liebe zählt, sind die Regeln, wie die Liebe auszusehen hat, strenger denn je. Sie muss gelingen. Sie muss sich lohnen. Sie muss erfolgreich sein. Und das bedeutet: Sie muss auf Familie und ein langes gemeinsames, gleichberechtigtes, glückliches, sexuell erfülltes Leben hinauslaufen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Voraussetzung: Zwei Menschen suchen sich den passenden Partner auf eine Weise, wie es die Vermittlungsagenturen im Internet betreiben mit dem Ziel, möglichst viele Entsprechungen zu finden. Gleiche Interessen sind wichtig – dass beide Brahms mögen und Brasilien, moderne Fotokunst und Babyleaves-Salat, dass ihnen niemals eine Hortensie in den Garten käme und sie sich einig darüber sind, wie viel Geld eine Flasche Rotwein kosten darf. Sind die Übereinstimmungen beim Lifestyle gegeben, so sagt die Theorie, kommt die grundsätzliche Bereitschaft, einen gemeinsamen Lebensplan zu entwerfen, von ganz allein. Klappt es aus irgendeinem Grund doch nicht, findet sich sicher jemand, der besser passt.
An sich wäre das ja nichts Schlimmes, schließlich gab es die Vernunftehe als Modell schon immer. Viele glauben nach wie vor daran, dass die großen Leidenschaften sowieso zugrunde gehen, und ziehen die verlässliche Beziehung einer vielleicht verletzenden Liebe vor. Und ahnen es oft nicht mal: »Wir glauben, dass wir lieben, wie es uns gefällt, dabei gibt es einen ganzen Kanon an gesellschaftlichen Vorgaben, die uns erklären, was Liebe ist und wie sie geht«, schreibt die amerikanische Kulturkritikerin Laura Kipnis in ihrem Buch Liebe – eine Abrechnung. Wir machen uns vermeintlich vollkommen freiwillig auf die Suche nach einem möglichst vielseitigen Partner und binden uns an ihn in der Hoffnung, ihn ein Leben lang leidenschaftlich zu lieben – mag alle Lebenserfahrung, mögen alle Statistiken dagegen sprechen. Trotzdem glaubt jeder, es schaffen zu können, wenn man nur an sich arbeitet, oder an der Beziehung oder den Umständen. Oder an allem.
Mut zur Katastrophe
Wir haben gelernt, dass man nicht nur die Figur, sondern auch die inneren Werte optimieren kann, dass man erwachsen werden muss und reif, Verantwortung übernehmen und kompromissfähig sein soll. Und der Egoismus, der gehört sowieso überwunden. Kurz, wir leisten Schwerstarbeit, um uns zu beziehungsfähigeren Menschen zu entwickeln, und es lohnt sich, denn am Ende der Marter wartet das Glück. Selbst schuld, wer sich nicht genug Mühe gibt; wer sich aber ordentlich ins Zeug legt, darf auch einiges vom Leben und von der Liebe erwarten.
»Das Arbeitsethos hat sich in alle Ritzen der menschlichen Existenz ausgebreitet«, schreibt Laura Kipnis. Sie wettert gegen die »emotionale Korrektheit« und den ihr innewohnenden Glauben, mit viel Arbeit, ja Mühe, könnte man sich die Liebe untertan machen. »Sich verlieben bedeutet nach dem herrschenden System nicht nur, sich an einen Menschen zu binden, sondern sich auch auf emotionale Tauschgeschäfte und Kompromisse einzulassen: Zwei Menschen müssen ihre Unterschiedlichkeit so weit reduzieren, dass sie sich gegenseitig tolerieren können. Während einst Schwefel und Höllenfeuer Paare zusammenschmiedeten, erfüllt diese Aufgabe heute der Badezusatz der Persönlichkeitsentwicklung.«
Zu viel der Symmetrie allerdings kann, davor muss gewarnt werden, zu der Art kameradschaftlicher Partnerschaft führen, in der die sexuelle Anziehungskraft nachlässt. Macht nichts, auch da trösten wir uns, indem wir der »reifen Liebe« andichten, viel wertvoller zu sein als der flüchtige Rausch der Verliebtheit. Und außerdem, warum sollte man nicht auch an einem zufriedenen Sexleben arbeiten können? »Wir führen das Liebesleben einer Nation von Arbeitssüchtigen«, spottet Kipnis, »wenn Sex nach Arbeit aussieht, dann haben wir offenbar noch nicht genug daran gearbeitet.«
Irgendwo verstecken sie sich vielleicht noch die Lonesome Cowboys und Casanovas, die Feministinnen oder männermordenden Vamps, die alle heute Fälle für den Therapeuten wären, weil sie sich der idealen, der vernünftigen Beziehung verweigern und nicht einmal bekehrt werden möchten – sie gelten als gestört, neurotisch, beziehungsunfähig.
Ein anderes Paar: Der Mann führt eine Fernbeziehung, weil er in der Nähe seiner Kinder bleiben will und seine Freundin in einer anderen Stadt ein Restaurant führt. Längst kennt er die Antworten seiner Freunde, wenn er ihnen von seiner Beziehung erzählt: »Also ich würde das nicht mitmachen«. – »Wie«, möchte er da jedes Mal fragen, »wie: nicht mitmachen?« Er versucht dann noch zu erklären, dass er sich ja nicht die Art der Beziehung ausgesucht, sondern die Liebe sie ihm eingebrockt habe. Hätte er wirklich anfangs zu seiner späteren Freundin sagen sollen: »Du bist zwar die tollste Frau, die ich in den letzten zehn Jahren kennengelernt habe, aber für eine Fernbeziehung bin leider ich nicht zu haben. Vielen Dank und alles Gute.«
Ist die Liebe nicht gerade das: Mut zur Katastrophe? »Liebe ist kein fairer Handel«, schreibt Christina Nehring. »Die Liebe ist ein Dämon. In ihrer reinsten, wildesten Art ist sie Abenteuer, ein heroischer Akt, Ekstase, Hingabe, Selbstaufgabe, Gefahr, Exzess.« Die Autorin plädiert für die wilde Leidenschaft, für mehr Drama und Schmerz und weniger Vernunft in der Liebe. Weg mit den Abenden im Schein einer Duftkerze, gemütlich im Jogginganzug auf dem Sofa, Schluss mit Verabredungen zum Sex im Ehebett. Christina Nehring erzählt die Geschichten großer und gefährlicher Lieben. Wie jene von Tristan und Isolde, von Romy Schneider und Alain Delon, Anna Karenina und Graf Wronskij, Diego Rivera und Frida Kahlo. Wer sich hingibt, schreibt sie, lebt nun einmal gefährlich. Aber intensiv.
Christina Nehring behauptet sogar, die Verbreitung des alten Satzes, Liebe macht blind, sei nur der Zweckpessimismus der Vernünftigen: Weil sie für den Fall, dass es schiefgeht mit ihrer Liebesgeschichte, gleich eine Erklärung haben, die sie entlastet. Dabei wissen wir alle, Frischverliebte werden sehend. Sie nehmen den Wald in seinen grandiosen Farben erst verliebt richtig wahr, finden neue Welten in Büchern, die sie verächtlich übersehen hatten, steigen auf Berge und verlieren ihre Höhenangst, hören Musik, deren fremder Klang sie süchtig macht. Menschen, die mit liebenden Augen angesehen werden, muss man sich nicht schöntrinken für die Nacht.
Das Paar vom Anfang dieser Geschichte hat sich dem gesellschaftlichen Konsens dann doch gebeugt. Die beiden sind zusammengezogen. Es war zu zermürbend, sagt sie, sich ständig verteidigen zu müssen. Und manchmal hatte sie – obwohl sie sich von ihm begehrt und beachtet fühlte – kleine, giftige Zweifel in sich gespürt: »Vielleicht liebt er mich doch nicht genug?« Sie fing an, von einem Liebesbeweis zu sprechen, den sie bräuchte. Irgendwann hat er nachgegeben und seine Wohnung gekündigt. Denn er liebte sie ja wirklich. Da passte es, dass ihre Freundin sowieso auszog, weil sie heiratete und jetzt Kinder wollte und so weiter.
Zwischen den beiden läuft es: so mittel. In ihrer Wohnung riecht es nun stärker nach Bratfett als nach den frischen Blumen, die sie vom Markt mitbringt. Er trauert seinem schönen Kochprofi-Gasherd nach, bei ihr lässt sich nur ein Elektroherd anschließen. Sie hat die Weckgläser voller Tee und Kräuter, die er mitgebracht hat, begeistert in ihr Regal gestellt. Nicht so begeistert ist sie von den Kleiderbergen, die er anhäuft. Natürlich ist es schön, nach Hause zu kommen und er ist da. Aber oft ist er eben auch einfach nur da, neben ihr, in seinem Arbeitszimmer. Die Tür ist zu, denn er ist nach wie vor gern allein. Sie ist dann auch für sich und findet das in Ordnung, aber irgendwie sei es früher schöner gewesen, das Fürsichsein. Weil sie sich darauf freuen konnte, ihn zu treffen. Sie traut sich kaum, das ihren Freunden zu sagen. Sie würden denken, sie sei nicht bindungsfähig. Dabei ist sie gern gebunden, nur eben nicht unbedingt in derselben Wohnung. Und manchmal denkt sie an den Satz von Alfred Polgar: »In der Liebe ist es besser, nicht eins zu werden, sondern zwei zu bleiben.«
Foto: Riccardo Tinelli