Es geht immer gleich los, manchmal schon auf der ersten Seite. Ohne langes Vorgeplänkel ist der Ritter da. Bewahrt eine Unbekannte vor dem Ertrinken im wilden Ozean, befreit sie aus einer peinlichen Situation auf einer Cocktailparty, saugt in letzter Sekunde Schlangengift aus einem blassen Schenkel. Und sehr bald schon wird gehechelt und gekeucht, gezittert und gebebt. Oft alles gleichzeitig. Immer lodert irgendwo ein Kamin, in einer Suite, auf einer Yacht.
Sie: Porzellanteint, seidiges Haar, sehr schlank. Er: sehr muskulös, mit kantigem Kinn und ausgeprägten Wangenknochen, je nach Profession kommt ein Dreitagebart dazu. Er ist Pilot, Scheich, Wüstenarzt, lenkt Staaten und Unternehmen, ein einsamer Wolf, die Schläfen leicht grau. Die Rede ist vom Mills-&-Boon- Mann, im Folgenden MBM.
Mills & Boon ist ein britischer Verlag, gegründet im Jahr 1908, der zunächst alles Mögliche produzierte, vom Krimi bis zum Reiseroman. Bis die Gründer in den Dreißigerjahren merkten, das, womit sie richtig Geld verdienten, waren die unerfüllten Fantasien ihrer Leserinnen. Darauf setzten sie fortan ausschließlich.
Der MBM ist einer, der weiß, wo es langgeht, und zwar immer. Hindernisse? Räumt er zur Seite. Er fragt nicht, er nimmt. Im Konferenzsaal wie in der Liebe. Ein Blick zur Sonne, und er kennt die Uhrzeit, die Himmelsrichtung sowieso. Er ist groß, fast immer dunkelhaarig. Mit Millionen auf dem Konto, besser Milliarden.
MBM sind Männer, die normales physisches Funktionieren außer Kraft setzen. Die Frauen, denen sie begegnen, kriegen oft schon beim ersten Anblick weiche Knie, japsen nach Luft, das Hirn ein einziger Wattebausch. Wie man halt so reagiert angesichts einer Naturgewalt. Der MBM ist sich seiner Wirkung natürlich bewusst und lächelt amüsiert und siegesgewiss. Meistens aber ist er brüsk und arrogant. Er ist der Mann, an dem man im normalen Leben verzweifelt und von dem einen jede gute Freundin fernhält.
Oft trägt der MBM ein Geheimnis in sich, wurde früh von der Mutter weggegeben oder wuchs in großer Armut auf, aber das weiß niemand. Bis irgendwann, und natürlich nur im Roman, sie kommt: die einzig Richtige, die Auserwählte. Der es endlich gelingt, seine harte Schale zu durchbrechen, ihn aus der Einsamkeit zu erlösen, ihn zu zähmen. Nur ihr zeigt er sein wahres Gesicht, macht sich auch mal klein, gibt zu, dass er immer nur Angst hatte, sein Herz zu öffnen. Zwischen der ersten und der letzten Seite eines Mills-&-Boon-Dramas liegen viele Hürden und Missverständnisse, aber verlässlich steht am Schluss das Happy End. Die Liebe für immer, Schwüre im Mondschein, gottgleiche Nachkommen.
Geführt wird die Traumfabrik aus einem schmucklosen Bürogebäude in Richmond, einem Vorort von London. Es ist ein Bau, der von außen nach Arbeitsamt aussieht, so gar nicht nach Sehnsuchtsquelle. Immerhin steht er am passenden Ort: der Paradise Road. Mills & Boon ist so englisch wie Scones und Pimm’s. Der Name ist jedem Briten ein Begriff, im Oxford English Dictionary steht er als Synonym für populäre Liebesromane. Es ist ein Name, der nicht nur für ein höchst profitables Unternehmen steht, sondern für Millionen Seufzer auf Sofas, in Badewannen, in U-Bahnen. Ein oder zwei Bücher sind an einem Abend gut zu schaffen. Dann kommt der Ehemann aus dem Pub zurück.
Als die BBC im Jahr 1982 ihr 60-jähriges Bestehen feierte, wurde mit gebührendem Ernst eine Zeitkapsel vergraben, die 2000 Jahre später geöffnet werden soll. Unter den ausgewählten Kulturgütern, die die Nachwelt finden wird: ein Mills-&-Boon-Roman.
Man mag das für absurd halten – aber angesichts der Verkaufszahlen ist es nur passend: Mills & Boon ist nämlich eine Gelddruckmaschine, besonders seit der Verlag 1971 vom kanadischen Romantik-Unternehmen Harlequin gekauft wurde, das bereits im Begriff war, den nordamerikanischen Buchmarkt zu erobern. Gemeinsam nahm man sich nun die Welt vor: Mitte der Achtzigerjahre verkauften sie 250 Millionen Bücher, heute sind es jährlich noch 130 Millionen. Übersetzt in 26 Sprachen, erhältlich in über
hundert Ländern. Warum sich die Verkaufszahlen, auch wenn sie immer noch beachtlich sind, fast halbiert haben, beantwortet niemand bei Mills & Boon in London. So wie sie auch auf alle anderen Fragen, die man durchaus noch gehabt hätte, beharrlich nicht reagieren, sondern auf ihre Internetseiten verweisen.
Vom Geschichtsroman bis zu Pornos
Nun gut. Allein in Großbritannien geht alle paar Sekunden ein Mills-&-Boon-Roman über den Ladentisch. Seit es E-Books gibt, müssen sie auch nicht mehr ganz hinten im Schrank versteckt werden. Die Bücher haben eine kurze Lebensdauer – wenn sie nach drei Monaten nicht verkauft sind, lässt der Verlag sie schreddern. Jeden Monat kommen siebzig neue Titel nach.
In Deutschland, Österreich und der Schweiz werden die übersetzten Schmöker seit 35 Jahren über eine Tochter vertrieben, den Hamburger Cora-Verlag. Als Taschenbücher und besonders als preisgünstige Minidramen in Heftreihen wie »Julia« oder »Bianca«, die nur im Zeitschriftenhandel verkauft werden. Jährliche Gesamtauflage dieser Kiosk-Romane, bei denen Cora mit 94 Prozent Marktanteil unangefochtener Platzhirsch ist: 15 Millionen. 1989, als die Mauer fiel, standen die cleveren Geschäftsleute von Harlequin Mills & Boon parat – sie verteilten mehr als 700 000 Romane an potenzielle Fans aus Ost-Berlin.
Über 1200 Autoren aus aller Welt schreiben für die Sehnsuchts-Produzenten, eine Großzahl unter Pseudonym. Manche verfassen viele Dutzend Geschichten, eine vor Kurzem verstorbene Britin brachte es auf 130. Diese Vielschreiber haben natürlich eine treue Fangemeinde, die meisten Autorennamen aber sind nebensächlich, Leserinnen kaufen die Marke Mills & Boon – und bekommen in Variationen immer das verlässlich Gleiche.
Seit den Fünfzigerjahren wurden die Bücher immer expliziter, heute sind die Grenzen zum Porno fließend. Am Kern des Alpha-Helden hat sich wenig geändert, nur dass er sich heute an exotischeren Orten aufhält als einst. Um den romantischen Einheitsbrei ein wenig zu würzen, hat Mills & Boon einen breiten Katalog zielgruppengenauer Sub-Genres entwickelt, hier findet jede ihre Nische: Medizin (das gute alte Doktorspiel, gern auch im Dschungel-Lazarett), Geschichte (edle Ritter und Burgfräulein), Nocturne (Vampire und Werwölfe), Blaze (das englische Wort für Feuersbrunst, es geht um Sex, und zwar sehr eindeutig, auf den Covern schweißnasse Waschbrettbäuche), Spice (ebenso, nur zusätzlich Fesselspiele), Moderne Romanze (Oligarchen auf Superyachten). Wenn man sich eine Weile in diesem Universum aufgehalten hat, beginnt man, sich zu wundern. Über die Frauen. Und über die Männer.
Über die Frauen, die sich im wahren Leben an verkopfte Verstehmänner binden – die aber trotz aller Emanzipation offenbar nur davon träumen, sich zu unterwerfen und keine Entscheidungen treffen zu müssen. Gegen ihren Willen aufs Bett geschmissen zu werden, zum Schweigen verdonnert, erniedrigt und bedroht.
Über die Männer, weil die sich die Augenbrauen zupfen und ihre Mousse au Chocolat verfeinern und gar nicht verstehen, dass sie sich immer weiter von dem entfernen, was ihre Gefährtinnen zwischen Buchdeckeln suchen. Den Höhlenmann. Tarzan.
Bei Mills & Boon wird nicht geküsst, sondern Lippen »werden besessen«. Eine inzwischen verstorbene Autorin des Verlages, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren einen Bestseller nach dem andern produzierte, beschrieb ihre Helden bereits damals als Männer, die »Angst einflößen und faszinieren«. »Es ist die Art Mann, die in der Lage ist, zu vergewaltigen. Männer, mit denen man nicht allein in einem Raum sein sollte.«
Daran hat sich so viel nicht geändert, auch wenn die Frauen bei Mills & Boon heute nicht mehr nur keusche Jungfrauen sind – wobei es auch die noch gibt –, sondern oft Karrierefrauen, die Ziele verfolgen. Deren größte Herausforderung aber plötzlich darin liegt, den Helden zu bändigen. Etwa die Umweltaktivistin, die sich an den Schreibtisch des Immobilienhais gekettet hat. Sie ist natürlich rasend attraktiv, deshalb auch sein »Impuls, sie zu verschlingen, während sie in Ketten lag. Als sie sich vorbeugte, um die Fesseln zu lösen, und er ein Stück schwarzer Spitze in ihrem Dekolleté sah, musste er seine Fäuste ballen, um sich zu beherrschen.« Der Herr kippt erst mal einen doppelten Whiskey. Am Ende wird natürlich alles gut, er baut ihr ein ökologisch mustergültiges Meeres-Schutzgebiet und in ihren Augen glitzern die Tränen.
Mills & Boon hat für zukünftige Autoren ein paar Hinweise auf seine Webseite gestellt, wie der Alpha-Mann zu erschaffen sei. Da liest sich das so: »Beachten Sie, dass er der ultimative Ernährer ist. Bauen Sie seinen Charakter darauf auf. Er hat das Wohlbefinden anderer im Sinn und erkennt den guten Kern der Heldin.« Sie bekämen viele Manuskripte, schreiben die Lektoren weiter. Sie alle hätten die gleiche Schwäche. Der Held sei »einfach nicht Alpha genug«.
Es ist eine interessante Spirale – je selbstständiger die Frauen bei Mills & Boon werden, desto dominanter tritt der MBM auf. Das Wort »Gefangene« ist ein sehr beliebter Teil des Titels, es gibt unzählige Varianten: Gefangene des Wikingers, des Wüstenkönigs, des Milliardärs – oder ganz schlicht »Gefangene in seinem Bett«. Aber auch wenn der Titel Mediterranean Tycoons heißt, geht es doch allein ums Thema Unterwerfung: »Er war nicht ihr Typ. Er war zu viel von allem. Zu groß, zu dunkel, zu sexy, zu attraktiv – zu cool und zu rätselhaft.« Sie einen halben Kopf kleiner als er, auf Augenhöhe »mit seinem gemeißelten Kinn«. Er erpresst sie schließlich, es geht um die Ehre ihrer Familie, und zwingt sie, ihn zu heiraten. Ein Ehebett gehört mit zum Arrangement – und es dauert nicht lange, bis sie sich atemlos eingesteht: »Verführung … ich wurde gerade komplett, wunderbar, gründlich und rücksichtslos verführt.« Bald wispert sie: Ich will dein Baby. »Da wurden seine goldenen Augen plötzlich schwarz, die Kraft des Löwen in ihm wurde mit einem einzigen Adrenalinschub geweckt und er griff nach dem Reißverschluss ihres Kleides.«
Meine Damen, meine Herren, irgendetwas läuft hier falsch. Im Leben oder auf dem Papier.
Fotos: Vorlagen aus dem Buch The Art of Romance. Mills & Boon and Harlequin Cover Designs, Prestel Verlag