»Ein Held, der seine Hände in Blut getaucht hat, tut einfach der Geschichte gut«

Tom Rob Smith hat mit dem Krimi Kind 44 einen gigantischen Erfolg gelandet. Hier erklärt er, welche Regeln er dafür brechen musste.


SZ-Magazin: Tom Rob Smith, Sie sind 32 Jahre jung. Müssen Sie befürchten, den größten Erfolg Ihres Lebens bereits hinter sich zu haben?
Tom Rob Smith:
Ich sehe, dass diese Möglichkeit besteht. Aber ich mache mir darum keine Sorgen. Ich bin Optimist.

KGB-Agent jagt im Moskau der Fünfzigerjahre Serienmörder – die Idee zu Ihrem Bestseller Kind 44 hatten Sie im Alter von 24 Jahren. Glauben Sie wirklich, je einen besseren Krimi veröffentlichen zu können?
Ich bin bisher nie bei irgendetwas im Leben schlechter geworden; ich glaube daran, dass ich mich verbessern werde. Beim Schreiben zählt Erfahrung enorm viel. Mit den Jahren wird man belesener und schlauer. Ich mag nicht glauben, dass Kind 44 mein bestes Buch gewesen sein soll.

Sie haben bereits zwei Folgebände geschrieben. In Kolyma, Band zwei, kommt Ihr Held Leo Demidow ein paar Jahre später in ein sibirisches Lager. Agent 6, Band drei, erscheint nun in Deutschland; Demidow klärt in den Achtzigerjahren einen Mord in New York auf. Sind diese beiden Bände Ihrer Meinung nach denn genauso gut gelungen wie der erste?
Ich begreife alle drei Bände im Grunde als ein Buch; die Erzählperspektive, die Struktur, das Ende in New York waren mit dem ersten Band bereits vorgezeichnet. Ich musste die Geschichte von Leo Demidow nur mehr herunterschreiben.

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Band eins, Kind 44, wurde bisher in 34 Ländern zwei Millionen Mal verkauft, Ridley Scott hat die Filmrechte erworben. Haben Sie selbst eine Erklärung für den Erfolg?
Kaum, der Erfolg eines Buches liegt ja nicht unbedingt in der Hand des Autors. Mit dem Filmstart werden die Verkaufszahlen des Krimis wohl noch mal steigen. Mit einem hohen Werbeetat kann man so gut wie alles verkaufen.

Wollen Sie Ihren kommerziellen Erfolg als Bestsellerautor herunterspielen?
Nein, ich bin sicher niemand, dem es egal ist, ob sich seine Bücher verkaufen. Das habe ich schon zur Genüge erlebt: In der Pubertät habe ich schon mal eine Novelle geschrieben, die niemand veröffentlichen wollte. Als Literaturstudent in Cambridge habe ich ein Theaterstück inszeniert, keinen Abend kamen mehr als zehn Zuschauer in die Vorstellung, ich einer von ihnen. Seitdem halte ich brotlose Kunst für nicht erstrebenswert. Ich bin ein kommerzieller Schreiber. Habe sogar Drehbücher für englische Soap-Operas geschrieben. Aber wirtschaftlicher Erfolg ist nicht kalkulierbar. Manchmal schreibt man etwas, von dem man denkt, es sei unverkäuflich, und es verkauft sich doch. Oder umgekehrt. Mein Verlag hat große Erwartungen in den Verkauf von Kind 44 in Polen gesetzt, aufgrund der geografischen Nähe Polens zu Russland, der politischen Verflechtungen mit der Geschichte Stalins, doch die Erwartungen wurden enttäuscht. Vom Verkauf in Japan hat sich niemand etwas erhofft, doch es lief super. China ging auch gut, Südkorea nicht, ich habe keine Ahnung, warum. Verkaufen ist wie Surfen: Man muss die Welle reiten, solange es geht. Kontrollieren lässt sich die Welle nicht. Es ist unmöglich, so einen Bucherfolg strategisch zu planen oder im Nachhinein zu analysieren.

Vielleicht haben Sie ganz einfach einen perfekten Krimi geschrieben?
Nein. Der Verkauf ist perfekt gelaufen, aber ich habe kein perfektes Buch geschrieben.

Was fehlt?
Bei einem perfekten Buch entsprechen sich der Ton der Romanfigur und die persönliche Lebenserfahrung des Erzählers viel mehr. Man entwickelt schon während des Schreibens ein Gespür dafür. Ich fühlte mich Leo verbunden, aber nicht sonderlich stark. Kind 44 war nicht das Buch meines Lebens, es war eine Geschichte, über die ich gestolpert bin: Ich musste für ein Drehbuch über Serienkiller recherchieren und stieß dabei auf einen Russen, der Ende der Siebzigerjahre lange ungehindert morden konnte, weil die Behörden seine Existenz leugneten – einen Serienkiller durfte es in einer sozialistischen, perfekten Gesellschaft nicht geben.

Hat Kind 44 Ihr Leben verändert?
Ich wurde letzte Woche nach Tokio eingeladen, um vor 150 Leuten meine Einleitung zu Band drei vorzulesen – auf Japanisch! Danach bin ich mit meinem Übersetzer auf den Fuji gestiegen. Ich liebe Bergsteigen, und diese Möglichkeit hätte ich niemals bekommen ohne Kind 44. Und ich beantworte heute alle zwei Wochen Leser-E-Mails.

Seit dem ersten Band gelten Sie als Krimi-Wunderkind. Haben Sie beim Schreiben der beiden Fortsetzungsbände gar keinen Erfolgsdruck verspürt?
Im Gegenteil: Beim ersten Band war der Druck immens. Ich hatte ja erst einen Ganztagsjob als Drehbuchautor, den habe ich später gekündigt und von meinen Ersparnissen gelebt, aber ich konnte mir nie sicher sein, dass mein Manuskript je erscheinen würde und ich nicht zwei Jahre meines Lebens wegwerfe. Ich war nicht mal sicher, es zu Ende zu bringen. Als ich Band zwei schrieb, stand ich nur mehr unter Zeitdruck. Ich bin auf Lesereise mit Band eins gegangen und habe gleichzeitig an Band zwei geschrieben, der Druck war nicht so stark. Ich wusste ja zu dem Zeitpunkt schon, dass die Geschichte grundsätzlich funktioniert.

Beim Schreiben von Kind 44 waren Sie sich nie sicher, eine gute Geschichte zu haben?
Nach acht Monaten habe ich allmählich ein gutes Gefühl bekommen und daran geglaubt. Für alle Probleme mit dem Handlungsablauf oder bei der Recherche habe ich bis dahin beim Schreiben immer schnell eine Lösung gefunden. Aber als ich das Manuskript dann nach zwei Jahren wegschickte, war ich ziemlich nervös.

Wie lang haben Sie gebraucht, um das Manuskript an einen Verlag zu verkaufen?
Meine erste Agentin war von dem Manuskript nicht begeistert und schlug vor, das erste Drittel zu kürzen, weil da noch nicht wirklich ermittelt wird – sie fand das verwirrend. Den ganzen geschichtlichen Einführungsteil über die Hungersnöte in Russland wegzuschmeißen kam für mich natürlich nicht infrage. Nicht aus Arroganz, ich dachte nur, na, dann verkauft es sich eben nicht. Die Agentin hat mein Manuskript in ihrer Firma weitergereicht, ihr Kollege hat ein paar kleinere, sehr sinnvolle Änderungsvorschläge gemacht, es dann an die Verlage rausgeschickt und nach einer Woche verkauft.

Was wirklich erstaunlich ist, denn in dem Buch haben Sie viele Krimi-Konventionen verletzt.
Habe ich das? Ich habe beim Schreiben nie an irgendwelche Regeln gedacht.

Kind 44
spielt 1950 in Moskau während des Stalinismus – so eine Szenerie kann nicht verkaufsfördernd gewirkt haben.
Ja, viele Journalisten oder Leser haben nur den Klappentext gelesen und sich gefragt: Wer interessiert sich schon für Russland? Beim Film wird die Frage sicherlich wieder gestellt werden. Aber Stieg Larsson konnte die Menschen für Schweden begeistern, das hätten auch die wenigsten gedacht.

»Man muss jeden Charakter lieben«

Ihr Held Leo Demidow ist nicht der übliche Ermittler, so wie wir ihn aus amerikanischen oder schwedischen Krimis kennen: missmutiger Typ mit verzeihlichen Launen und Charakterschwächen. Der KGB-Agent Leo Demidow ist zu Beginn der Trilogie ein kaltblütiger Killer.
Fehlerlose Charaktere sind nicht sonderlich interessant. Der Zweifel, die Scham, die Dunkelheit, gegen die jemand ankämpfen muss, machen ihn interessant.

Demidow ist ein Psychopath.
Aber einer, der beschließt, einmal nicht unschuldige Menschen zu verfolgen, und der das mit seiner Karriere büßen muss. Jeder Schriftsteller sucht sich seine Charaktere – oder umgekehrt. Ich fühle mich nun mal nicht zu komischen Menschen hingezogen, sondern zu Figuren, die sich unter Druck enorm verändern. So sind meine Figuren, ob ich will oder nicht. Hinzu kommt: Am Ende des ersten Bandes begegnen sich zwei Killer, zwei Brüder, die getrennt aufwuchsen – das ist ein bekanntes literarisches Stilmittel aus dem 19. Jahrhundert. Der Vergleich ihrer jeweiligen Motive zu töten hat mich interessiert. Ein Held, der seine Hände in Blut getaucht hat, tut einfach der Geschichte gut.

Selbst für Psychopathen Sympathie zu erwecken – ist das der Trick moderner Krimi-Bestseller?
Man muss an jedem Charakter irgendetwas lieben, sonst funktioniert kein Buch, und man muss als allmächtiger Erzähler fair bleiben. Ich als Erzähler habe alles in der Hand, aber ich muss selbst dem Killer einen Anwalt zur Seite stellen, der wie vor Gericht Argumente für dessen Handeln sucht. Es wäre sonst zu leicht, eine Figur anzugreifen oder zu vernichten. Ich misstraue jedem Autor, der seine Allmacht gegenüber seinen Charakteren ausspielt. Ich fühle mich verpflichtet, in jeder Figur etwas Liebenswertes zu finden. Meist sind böse Menschen ja auch nur fehlgeleitete Idealisten, so wie der amerikanische FBI-Agent im dritten Band. Beim Serienkiller in Band eins bin ich allerdings gescheitert. Man kann gerade noch nachvollziehen, dass er durch die Hungersnöte in den Dreißigerjahren wohl traumatisiert worden sein muss. Aber bei ihm sind meine Einfühlsamkeit und Fantasie an ihre Grenzen gestoßen. Ich fand keine weiteren Argumente für jemanden, dem die Schmerzen anderer so unglaubliche Lust bereiten.

Wozu hatten Sie zuerst die Idee: zu den Hauptfiguren oder der Handlung?
Ich denke mir nicht die Figur aus und setze sie dann in die Handlung hinein. So funktioniert das nicht. Beides vermischt sich. Figuren und Handlung bedingen einander.

Der Mord steht nicht am Anfang jedes Krimis?
Meine Krimis funktionieren eher so: Ich setze meine Figuren unter Druck und sehe ihnen dann zu, wie sie leiden und sich allmählich verändern. Sobald eine Figur unter Druck steht, kann ich mit ihr glaubhaft machen, was ich will. Dazu braucht man nicht unbedingt eine Waffe oder einen Mord.

Helden leiden lassen – ein weiteres Bestseller-Rezept verraten Sie nicht?
Ich habe noch die üblichen Tipps auf Lager: Finde einen Stoff, an den du hundertprozentig glaubst, schreibe ihn so gut auf, wie nur irgend möglich, versuche nicht daran zu denken, ob das Publikum das Manuskript mögen wird – da vertut man sich leicht –, und sei dir darüber im Klaren, was es werden soll: Ich wusste immer, dass ich einen Thriller schreiben möchte, der in Russland spielt und für den Geschichte wichtig sein wird. Bei etwas anderem war ich mir auch noch sicher: Ich wollte mich nie hochnäsig über das sowjetische Regime auslassen. Mich interessierte eher die Frage: Wie hätte ich mich unter den damaligen Zuständen verhalten? Das hat
geholfen beim weltweiten Erfolg.

Wurde Kind 44 schon nach Russland verkauft?
Vor sechs Monaten, die Übersetzung ist gerade erst erschienen. Sie haben lange gezögert. Man sieht es in Russland nicht gern, wenn Ausländer über das Land schreiben.

Sie leben in London und haben insgesamt nur wenige Wochen in Russland recherchiert. Haben Russen irgendwelche Fehler in den drei Büchern entdeckt?
Ich habe einen unsinnigen Stadtnamen erfunden. Ich habe auch ungewöhnlich kurze Vornamen benutzt, die im Russischen obskur klingen. Ich wollte für Europäer einprägsame Vornamen; an eine Übersetzung meines Buches ins Russische habe ich damals nicht mal im Traum gedacht.

Die Foltermethoden, die Bedingungen im Gulag, die politischen Hintergründe stimmen alle?
Mit den Fakten habe ich niemals gespielt. Ich habe keine Tatsachenbehauptungen erfunden und auch nichts übertrieben. Ich habe Alexander Solschenizyns Archipel Gulag und alles über die Hungerkatastrophen in den Dreißigerjahren gelesen; ich habe in Akten gefunden, wie Ärzte politische Gefangene beim Verhör gefoltert haben oder wie der Stacheldraht in sibirischen Arbeitslagern aussah. Ausgedacht sind nur die Personen.

Wer ist Ihr erster Leser?
Mein Agent. Er wird auch mein viertes Manuskript zuerst bekommen.

Weiß er, worum es geht?
Er weiß, dass es wieder ein Thriller werden wird, dieses Mal aber aus einer Ich-Perspektive erzählt. Das ist alles.

Reicht einem Bestsellerautor so ein lakonischer Satz denn, um von seinem Verlag einen Vorschuss zu bekommen?
Ja. Ich glaube aber wirklich, dass es sich ganz gut verkaufen könnte. Mein Gefühl während des Schreibens war wieder gut.

Foto: Sam Faulkner/Focus