Auf greisen Sohlen

Neue Schuhe sind etwas Feines. Doch ihre wahre Schönheit entfalten sie erst, wenn man ihnen ansieht, was sie und ihr Träger schon alles erlebt haben.

Spätestens seit den ersten Schritten der Menschheit auf dem Mond wissen wir, dass sich ein abenteuerliches Leben auch durch die Fußspuren manifestieren kann, die es hinterlässt. Im Idealfall hat das Leben wiederum an den Schuhen, mit denen diese Abenteuer unternommen werden, seine Spuren hinterlassen. Vielleicht ist das der Grund, warum uns der Neuzustand von Schuhen in solche Verzweiflung treiben kann. Ein perfekt mit Spucke und öliger Paste polierter Lederstiefel mag einen Auftritt von vollendeter Eleganz garantieren. Wenn aber unter der glänzenden Oberfläche die vernarbte Landkarte der Erfahrung fehlt, bleibt sein Glanz blass. Denn nur im Schuh, der seinen Träger durch dick und dünn getragen hat, können wir lesen wie in einem Gesicht, wo Reisenarben und Falten der Erkenntnis das entstehen lassen, was man Charakter nennt.

Die Magie eines solchen Schuhs beginnt dort, wo er sich, mehrfach neu besohlt und mit Eisen beschlagen, in ein philosophisches Vehikel der Erinnerung an die Abenteuer verwandelt, die wir mit ihm erlebt haben. Aber das muss man erst lernen. Als ich während des Studiums in Heidelberg mein erstes Paar Alden-Schuhe frisch aus New England eintragen wollte, überraschte mich auf dem kurzen Weg zur Vorlesung ein Wolkenbruch. Das Leder der unimprägnierten Schuhe verzog sich im Nu zu einer pockennarbigen Fratze. Meine Verzweiflung war so groß, dass ich das Paar nie wieder trug. Dabei war die Fahrradfahrt im Regen so etwas wie ein Initiationsritual, das den Schuhen die Sporen gab, die sie dringend brauchten. Ich hatte es nur nicht sofort verstanden. Erst später im Leben lernen wir, dass selbst die teuersten rahmengenähten Budapester nichts wert sind, wenn wir in ihnen nicht aus dem Parkett des Alltags ausbrechen und in die Welt hinausgehen, als wären es Siebenmeilenstiefel.

Mein liebster Schuh wurde denn auch ein ordinärer brauner Lederbrogue, den ich, wie die berühmte Uhr aus der Schweiz, zwar nicht vom Vater, aber dafür von einem Freund weitergegeben bekam. Der schlanke Schnürschuh von Burberry, der meinem Kommilitonen Jakob Stagl aus Salzburg nach kurzem Eintragen immer noch zu klein vorgekommen war, steht inzwischen, nach Reisen durch Vorderasien und den indischen Subkontinent, von einem nepalesischen Schuster auf Vordermann gebracht, in meinem Kleiderschrank stets parat zur nächsten Reise. Die Rotweinflecken aus dem Casino in Colombo sind Teil seines Zaubers wie das imaginäre Sternbild, das ein sehr scharf gezahntes Motorradpedal bei einem etwas gewagten Überholmanöver im Hindukusch in das Leder akupunktiert hat. Es ist daher nur konsequent, wie gewiefte Firmen ihre gesamte Existenz aus der Idee des Vintage-Looks speisen: Sie verkaufen ja nicht weniger als gelebtes Leben. In meinem Sakko von Maison Martin Margiela lese ich, dass man seinen Schnitt einem japanischen Fundstück aus dem Jahr 1977 entliehen hat.

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Das alles fing wohl Ende der Achtzigerjahre mit der Gebrauchskleidung an, die wie die Barbourjacke unbedingt auch als Gebrauchtkleidung erkennbar sein sollte. Der Popper kaufte die Allwetterjacke zwar aus Distinktionsgründen, er mochte sie jedoch am liebsten, wenn sie aussah, als sei man gerade vom Traktor überfahren worden. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Mehr noch: Der Used-Look ist zur Erfolgswährung in der Modeindustrie geworden. Doch diese Eingetragenheit von der Stange kann keine Geschichten erzählen. Ein brauner Reitstiefel, den ich von einem Cousin in Kalifornien geschenkt bekam, weil seine Beine zu dick geworden waren, ist erst nach einem mehrtägigen Gewaltmarsch durch den Herbstschlamm Patagoniens in den herrlich abgewetzten Zustand eingetreten, der wildfremde Geschäftsmänner beim Anblick meiner verzweifelten Ausziehbemühungen während des Check-ins am Flughafen begeistert nach einem »Stiefelknecht« rufen lässt. Leider lassen sich die Kreppsohlen meiner einzigen anderen Lieblingsschuhe – der sandgrauen Desert Boots von Clarks – nicht erneuern. Das führt dazu, dass diesen Schuhen, wie anderen vergänglichen Variablen meiner Garderobe, Burlington-Socken etwa oder Smedley-Pullunder, nur eine begrenzte Lebenszeit geschenkt ist. Trotzdem fühle ich mich erst dann wohl in ihnen, wenn sie aussehen, als hätten sie den Pogotanz eines Punkkonzerts überlebt. Der daraufhin langsam einsetzende Verfall verwandelt sie in ein subtiles Vanitassymbol.

Fotos: Felix Brüggemann und Lisa Laurén