SZ-Magazin: Hatten Sie eine so schöne Kindheit, wie dieses Foto von Ihnen im Strampelanzug nahelegt?
David Bennent: Den Strampelanzug hat meine Mutter gestrickt, sie hat alle unsere Sachen selbst gemacht. Als ich ein paar Monate alt war, beschlossen meine Eltern, von Lausanne nach Mykonos zu ziehen. Für meine Schwester Anne und mich war das toll. Den ganzen Tag am Strand rumhängen, der Vater fing Fische, die wir dann aßen.
Und jetzt kommt das große "Aber"?
Die absolute Freiheit kann ganz schön anstrengend sein. Vor allem mit diesen Eltern, die mit der Zivilisation nichts zu tun haben wollten. Wir lebten autonom, beinahe anarchistisch.
Was heißt das?
Mein Vater hatte die Einstellung: Wenn mir was nicht passt, gehe ich. Und ihm passte vieles nicht. Dann packte er die Koffer und wir wurden durchs Leben gezogen, lebten mal bei Freunden, bei meiner Großmutter in Lausanne, im Hotel. Selbst bei meiner Geburt war er stur: Ich hatte eine Wachstumsstörung, war zu klein und zu schwach, die Ärzte sagten, ich würde die nächste Woche nicht überleben. Trotzdem nahm mein Vater mich aus dem Brutkasten und mit nach Hause. Er meinte, wenn ich schon sterbe, dann wenigstens nicht im
Krankenhaus.
Nehmen Sie ihm das übel?
Ach, so ist er bis heute. Meine Mutter hatte kürzlich einen Schlaganfall, und mein Vater verweigert jede professionelle Hilfe. Er meint, er wüsste am besten, was ihr guttut. Einerseits verstehe ich ihn, andererseits bin ich in großer Sorge, ob es wieder gut geht. Er ist ja jetzt schon 88.
Wie hat Sie Ihre Erziehung geprägt?
Wir Kinder konnten machen, was wir wollten, und wurden immer unterstützt. Aber wir mussten früh Verantwortung für unsere Entscheidungen übernehmen. Damit war ich oft überfordert. Als ich mich in der Schule nicht wohlfühlte, sagte mein Vater: »Geh halt nicht mehr hin.« Weglaufen ist einfach, schwieriger ist es, die Konsequenzen zu tragen.In der Schule waren Sie dann ja auch nur sporadisch, oder? Insgesamt vielleicht drei Jahre. Hauptsächlich wurden wir von unserer Mutter unterrichtet. Sie hatte eine Genehmigung dazu, und in der Schweiz gibt es ja keine Schulpflicht. In Deutschland gab es Ärger, die Nachbarn zeigten uns beim Jugendamt an. Das war auch wieder so ein Ding meiner Eltern: Ich kann zwar lesen, schreiben, rechnen, habe aber keinen Schulabschluss. Das schränkte meine beruflichen Möglichkeiten sehr ein. Astronaut hätte ich nicht werden können.
Mit zwölf spielten Sie in der Blechtrommel. War danach nicht sowieso klar, dass Sie Schauspieler werden?
Quatsch. Damals wollte ich Jockey werden, wozu ich bei meiner körperlichen Konstitution ja bestens geeignet wäre.
Warum wurde nichts daraus?
Mit 17 war ich in München auf einem Gymnasium und litt fürchterlich, weil ich nicht mitkam. In den Osterferien besuchte ich meine Schwester in Paris, die dort auf der Schauspielschule bei Patrice Chéreau war. Ich ging öfter mit und eines Tages fragte er mich, ob ich in seiner Inszenierung von Jean Genets Stück Die Wände mitspielen wolle.
Kurz danach erhielten Sie ein Angebot der legendären Comédie Française.
Unglaublich, nicht wahr? Als erster Deutsch-sprachiger und mit 17! Ich blieb dann bei der Schauspielerei und am Theater, weil ich mich da gut aufgehoben fühlte.
War Die Blechtrommel eines der entscheidenden Ereignisse Ihres Lebens?
Nö. Das denken immer alle. Den Oskar Matzerath zu spielen habe ich als Abenteuer empfunden, den Rummel danach weniger. Andererseits hat mir der Film viele Türen geöffnet. Ohne ihn hätte Patrice Chéreau mich sicher nicht angesprochen. Lästig finde ich nur, dass heute immer noch überall hinter meinem Namen in Klammern »Die Blechtrommel« steht.
Warum haben Sie danach kaum Filmangebote angenommen?
Weil ich nicht dauernd irgendwelche Zwerge spielen wollte. Die Angebote tendierten meist in diese Richtung.
Fühlten Sie sich diskriminiert?
Nein. Das sind die Gesetze des Marktes. Die Produzenten dachten wohl, mit der Masche »Gnom und Freak« könne man Geld verdienen. Aber da wollte ich nicht mitmachen. Am Theater werde ich weniger in diese Schublade gesteckt. Haben Sie je darunter gelitten, kleiner zu sein als die meisten anderen?
Als Kind nicht, in Griechenland scherte sich niemand darum. In der Schule wurde ich schon gehänselt. Doch das lag nicht nur an meiner Größe. Ich war in allem ein Außenseiter: Hatte die schlechtesten Noten, war der Fremde von der Hippie-Insel und passte nicht ins bürgerliche Weltbild. Auch die Blechtrommel brachte mir eher Missgunst als Bewunderung ein.
Passende Kleidung zu finden war für Sie wohl auch kein Spaß, oder?
Bis ich zwanzig Jahre alt geworden bin, war ich 1,30 Meter groß. Das hieß: Kin-derabteilung, Micky-Maus-Motive. Dann wuchs ich noch mal 25 Zentimeter. Seitdem komme ich gut zurecht. Meist müssen nur die Hosen gekürzt werden, und ich habe die Maßanfertigung entdeckt.
Sie kleiden sich auffällig. Hut, lange Mäntel, viel Schwarz, viele Nieten und Ringe.
Sie vermuten Kompensation? Wenn schon klein, dann wenigstens anders auffallen? Nein. Jedenfalls nicht bewusst. Dahinter steckt eher die Erinnerung an Mykonos und wie ich da aufgewachsen bin: die Insel, das Meer, die Freiheit und die kindliche Faszination für Piraten.
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Der Schweizer Schauspieler David Bennent, 43, wurde durch den Film »Die Blechtrommel« bekannt. Er lebt zurzeit in Berlin, wo er gerade am Renaissance Theater spielt.
und Roswitha Hecke (Fotos)