Calypso!

Die Fußballer von Trinidad und Tobago werden nächstes Jahr bei der WM ein Debakel erleben. Wenigstens haben sie gute Musik dabei.

Da denkst du, die Welt hat dich vergessen, hast eigentlich bereits mit deinem Leben und deiner Kunst abgeschlossen – und plötzlich stehst du wieder im Rampenlicht, um die alten Lieder zu singen. Und die Welt jubelt dir zu. So erging es vor einigen Jahren kubanischen Musikern wie Ibrahim Ferrer, Rubén González und Compay Segundo, die ihre Tage damit verbrachten, mit einem in die Ferne gerichteten Blick durch Havanna zu laufen – bevor sie die Platte Buena Vista Social Club und der gleichnamige Film von Wim Wenders wieder bekannt machten.

Es schien, als hätte das Publikum im kühlen Norden nur darauf gewartet, dass die leicht melancholische Musik dieser alten Männer wie eine warme tropische Brise durch die europäischen Wohnzimmer weht. Die Begeisterung, die den Musikveteranen bei ihren Auftritten entgegenschlug, das freudige Glitzern in ihren Augen, die ungebrochene Klasse ihrer Darbietungen – all das verband sich zu einigen der rührendsten Momente der Muskgeschichte. Wird Kuba die einzige Insel bleiben, der es auf diese Weise gelingt, auf ihre jahrzehntealte, aber immr noch vitale Musikkultur aufmerksam zu machen? Trinidad strebt nun das Gleiche an, mit einem Dokumentarfilm, der an Buena Vista Social Club erinnert, und zahlreichen Plattenveröffentlichungen. Denn auch hier gibt es eine Musikrichtung, die nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf der Wiederentdeckung harrt: Calypso. Lebhafte Rhythmen, harmonischer und melodischer Reichtum, fröhliche, meist in einem sympathischen Englisch mit karibischem Akzent gesungene Texte – all das hat unser Bedürfnis nach sinnlich-exotischer Popmusik schon einmal befriedigt, damals, zur Zeit des großen Calypso-Fiebers. Denn noch vor Reggae, Mambo und anderen Stilen war Calypso die erste tropische Musik, die von einer kleinen Insel aus weltweiten Erfolg hatte.

Bereits 1956 gelang Harry Belafonte mit Banana Boat (Day-O) der erste Calypso-Welthit. Mit diesem Titel und dem dazugehörigen Album Calypsos, das 31 Wochen lang die US-LP-Charts anführte, machte der US-Folksänger, Sohn einer jamaikanischen Mutter, die Musik weltweit zum Trend: Einige Jahre lang tauchte Calypso immer wieder in den Hitparaden auf und war auch in amerikanischen Bars und Nachtclubs präsent, wo die Musiker als besondere Attraktion gelegentlich auf der Steel Drum spielten, jenem aus einem ausgebeulten Ölfass hergestellten Instrument, dessen Xylophon-artiger Klang auf einigen Calypsos zu hören ist. Zu den erklärten Calypso-Fans gehörte selbst Prinzessin Margaret, Schwester der Queen.

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Und Udo Jürgens gelang noch 1968 mit der Calypso-Nummer Mathilda ein Top-Ten-Hit in Deutschland, der wegen seines Mitklatsch-Rhythmus noch heute ein Höhepunkt der Konzerte des Schlagerstars ist. Der Calypso ist ein Ergebnis von Trinidads wechselhafter Geschichte: Zuerst spanische, dann britische Kolonie, in der afrikanische Sklaven auf Zuckerrohrplantagen schufteten, zog die Insel im Lauf der Jahrhunderte auch Immigranten aus Frankreich, Holland, Indien und China an. Das Völkergemisch der Insel war der Nährboden, auf dem sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Vorläufer der Calypso-Musik entwickelten. »Port-of-Spain war zu dieser Zeit wahrscheinlich der kosmopolitischste Ort der Welt«, erzählte 1967 der Pianist und Komponist Lionel Belasco, eine der Schlüsselfiguren bei der Entwicklung des Calypso. »Man traf dort Menschen jeder Nationalität, Syrer, Chinesen, Portugiesen, Inder, Engländer, Spanier, karibische Ureinwohner. Man konnte durch einige Stadtviertel wandern und sich fragen, in welchem Land man ist, weil man kein Wort verstand, das geredet wurde.«

Belasco erinnerte sich auch an das musikalische Durcheinander, an Tänze, Liebeslieder und Walzer aus Venezuela, französische und spanische Volkslieder und diverse Formen afrikanischer Musik, die meist religiösen Bezug hatten, etwa die Musik der Orisha- und Macumba-Zeremonien. Dazu kam die Musik, die die populären Stockkämpfe begleitete, ritualisierte Kämpfe einzelner Männer oder ganzer Gruppen, die von Gesängen, Getrommel und viel Rumkonsum aufgepeitscht wurden. Die Ekstase der Stockkämpfe wurde nur noch übertroffen von der des trinidadischen Karnevals mit seinen Maskenumzügen (»Mas«). Dort konnten Bands wie die von Belasco ihre Mischung aus lateinamerikanischer, europäischer und afrikanischer Musik vor Publikum ausprobieren, dort boten Sänger wie Attila The Hun und Roaring Lion zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Calypsos. Seit dieser Zeit gehört zu jedem Calypsonian ein martialisches Pseudonym. Besondere Bedeutung kommt beim Calypso den Texten zu: Anders als in den meisten anderen Musikgenres ist es hier nicht möglich, sich mit Plattitüden durch den Song zu retten; das Publikum in Trinidad will unterhalten werden, egal ob auf witzige, deftige, sozialkritische oder gar philosophische Weise. Das Spektrum der Calypsotexte erstreckt sich dabei von auf andere Sänger und lokale Berühmtheiten gemünzten Spottversen über fröhliche Karnevalslieder und sexuelle Doppeldeutigkeiten bis zu quasi-journalistischen Songberichten über lokale und internationale politische Ereignisse; »Calypsonians sind Reporter«, erklärte die Sängerin Calypso Rose. Dabei entstanden häufig Songs, wie man sie aus keiner anderen Musikrichtung kennt: Advantage Mussolini komponierte Roaring Lion 1935 zum Beispiel über Mussolinis Äthiopien-Feldzug, während 1941 der Song Adolf Hitler von The Mighty Destroyer zum »Calypso des Jahres« gewählt wurde. Und 1964 trauerte The Mighty Sparrow zu einer beschwingten Melodie über The Death Of Kennedy. Der internationale Siegeszug des Calypso begann, als Musiker wie Lionel Belasco, Roaring Lion, Attila The Hun und Lord Beginner in den dreißiger Jahren zu Plattenaufnahmen in die USA reisten. Während des Zweiten Weltkriegs errichtete die US-Armee eine Militärbasis auf Trinidad und ein Song über Prostitution im Umfeld dieser Einrichtung gelangte 1945 auf den US-Popmarkt: Rum And Coca Cola wurde ein Riesenhit für die Andrews Sisters. England förderte ab 1948 die Einwanderung von Bürgern aus den Kolonien. An Bord des ersten Schiffs mit Immigranten aus der Karibik befanden sich etliche Musiker, die die britische Musikszene der kommenden Jahre nachhaltig aufmischen sollten, darunter die Calypso-Sänger Lord Kitchener und Lord Beginner. Ihnen folgten später unter anderem Roaring Lion, Young Tiger und The Mighty Terror ins Vereinigte Königreich. Auch musikalisch erreichte Calypso in den fünfziger Jahren seinen Höhepunkt. Die Bands hatten mit mehrköpfigen Bläser- und Percussions-Gruppen nun fast Big-Band-Stärke. Lord Kitchener und Mighty Sparrow trieben als Komponisten und Bandleader die musikalische Verfeinerung so weit, dass der amerikanische Komponist und Musikexperte Van Dyke Parks sie »auf einer Stufe mit Schubert, Schumann und Hugo Wolf« sieht. So war Calypso einige Jahre lang Schauplatz musikalischer Höhenflüge, bei denen sich ein einzigartiger Wortwitz, eine mitreißende Polyrhythmik und Arrangements von höchster technisch-musikalischer Raffinesse zu sonnig-karibischer Tanzmusik von großer Breitenwirkung verbanden. Nicht wenige Musikliebhaber reisten zu jener Zeit nur deshalb nach Trinidad, um dort die besten Calypso-Musiker zu erleben.

In den sechziger Jahren verdrängte jedoch jamaikanische Musik die Konkurrenz aus Trinidad: Ska, Rocksteady und schließlich Reggae wurden ungemein populär, vor allem natürlich dank des gigantischen Erfolgs von Bob Marley. In Trinidad selbst ging der allgemeine Publikumsgeschmack im Verlauf der siebziger Jahre mehr in Richtung einfacherer und rhythmisch eindeutigerer Musik: Soca (Soul-Calypso) löste schließlich Calypso in der Zuhörergunst ab. Den Charme und den musikalischen Reichtum von Calypso erreichte das neue Genre jedoch nie. Inzwischen ist es selbst wieder verdrängt worden durch Rapso, die Verbindung von Soca und Hip-Hop. Ganz verschwunden ist Calypso nicht. Und zurzeit gibt es sogar ein Revival: Älteren Helden wie The Mighty Sparrow, Calypso Rose und Mighty Terror sind plötzlich wieder sehr gefragt, eine neue Generation von Calypsonians versucht, den Anschluss an die alten Zeiten herzustellen. Einen guten Einblick in den derzeitigen Stand der Calypso-Szene gibt der Dokumentarfilm Calypso @ Dirty Jim’s, den der französische Regisseur Pascale Obolo im vergangenen Jahr auf Trinidad drehte und für den extra der legendäre Club »Dirty Jim’s« rekonstruiert wurde, der im Port-of-Spain der fünfziger Jahre die beste Adresse war. Veteranen wie Lord Superior und Mighty Bomber zeigen in dem Film, wie sich Calypsonians mit großem Wortwitz bei Musikwettbewerben gegenseitig zu überbieten versuchen. »Wir benutzen Worte wie Waffen«, erklärt Lord Superior, »wir sind Krieger.« Ob der Musik aus Trinidad letztlich ein ähnliches Revival vergönnt sein wird wie jener aus Kuba, bleibt abzuwarten. Aber dass Calypso immer noch auf dieselbe Weise die Herzen anrührt und die Füße zum Tanzen bringt wie vor fünfzig Jahren, als die Welt zum Rhythmus von Harry Belafonte tanzte, erkennt jeder schon nach wenigen Takten. ZUM WEITERHÖREN: Lionel Belasco: Goodnight Ladies and Gents (Rounder) The Mighty Sparrow: First Flight – Early Calypsos from the Emery Cook Collection (Smithsonian Folkways) Van Dyke Parks: Discover America (Rykodisc) Verschiedene: Calypso @ Dirty Jim’s (Soundtrack, mit The Mighty Sparrow, Calypso Rose, Mighty Terror u.a.) (EMI) Verschiedene: Fall Of Man – Calypsos On The Human Condition (mit Attila The Hun, King Radio, The Executor u. a.) (Rounder) Verschiedene: London Is The Place For Me Vol. 1 & 2 (mit Lord Kitchener, Lord Beginner, The Lion u. a.) (Honest Jon’s) Verschiedene: Roosevelt In Trinidad – Calypsos of Events, Places and Personalities (mit Wilmoth Houdini, Attila The Hun, The Tiger u. a.) (Rounder)