Es ist manchmal der Tod, der einen jung macht. Neulich, als Leonard Cohen starb, war ich wieder acht. Ich musste nur an seinen Song Suzanne denken, das Lieblingslied meiner Mutter, und saß wieder als kleiner Junge in unserem Ikea-Wohnzimmer, die Frühlingssonne schien durch die Terrassentür, und Cohens sanfte Stimme mischte sich mit dem Gezwitscher der Vögel im Garten. Heiler wurde die Welt nie wieder.
Anders war es bei Bowie. Sein Tod traf mich auch, aber nicht so tief. Den hatte ich erst später entdeckt, als ich schon groß war. Dafür fragte meine neunjährige Tochter plötzlich nach ihm. Dass David Bowie tot war, hatte die Kindernachrichtensendung logo! zu ihrer Hauptmeldung gemacht. Meine Tochter schnappte sich mein Handy und googelte Bilder von ihm. Sie schaute sich Ashes to Ashes auf Youtube an. Die Kostüme, die Stimme, dieses ganze irre Gesamtkunstwerk nahm sie sofort gefangen. Und natürlich fand sie meine Bowie-CDs.
Die Lieder der Kindheit brennen sich ins Herz wie später der erste Kuss. Als Bob Dylan drei Jahre lang in einer eigenen Radioshow seine Lieblingssongs vorstellte, spielte er kaum Folk, keinen Hippie Rock, sondern hauptsächlich Doo Wop, frühen Blues, Swing und Hillbilly – Musik aus der Zeit, als er ein Kind war.
So einen Soundtrack des Lebens hat jeder, ob im Schrank oder im Herzen.
Der Prägung durch die elterlichen Musikvorlieben entkommt man nicht. Da werden Weichen gestellt, im Guten wie im Schlechten. Ich bekomme heute noch warme Gefühle bei Angelo Branduardi, einem italienischen Minnesänger der Siebzigerjahre, zu dessen Weisen meine Mutter gern Räucherstäbchen anzündete.
Als Kind bediente ich mich wahllos an den Platten der Eltern und dachte mir nichts dabei. Was das mit den Großen macht, merke ich jetzt erst, da meine Tochter und mein Stiefsohn anfangen, sich durch mein CD-Regal zu arbeiten. Auch wenn ich mich nie als Plattensammler begriffen habe, hat sich da so einiges angehäuft. Ein persönlicher kleiner Steinbruch der Popkultur: Simon & Garfunkel und De La Soul, Elvis und Slayer, Pixies und Nirvana – mit ihnen allen bin ich ein Stück durchs Leben gegangen. So einen Soundtrack des Lebens hat jeder, ob im Schrank oder im Herzen.
Ihn mit den Kindern zu teilen ist eine zweischneidige Sache: Es ist wunderbar mitanzusehen, was sofort funktioniert und was nicht. Die schiere Lebensfreude der Beatles zum Beispiel ist so ansteckend, dass man sie keinem Kind erklären muss. Michael Jackson: ein Selbstläufer. Überhaupt ist meine neunjährige Tochter sehr offen. Sie liebt alles, was man mitsingen kann, aber auch den Neo-Bluesrock der Black Keys oder die technoiden Gospels von James Blake. Mittlerweile stapeln sich meine CDs in ihrem Zimmer zu kleinen Türmen. Und da fangen die Probleme an. Denn Kinder sind maßlos.
Ihr ist nämlich ziemlich egal, ob ich Bowies Gesamtwerk in stundenlanger Dauer-Rotation möglicherweise schwer ertrage, weil das bei mir schlimmste Abnutzungserscheinungen auslöst. Sie kann nicht wissen, dass es Songs gibt, die mir heilig sind, die ich nur in kleinen Dosen zu mir nehmen kann, um sie nicht zu entweihen. Vor allem ist ihr nicht klar, dass ich mich mit jedem Song, den sie aus meiner Erinnerung freilegt, ein Stückchen älter fühle. Sie kann den Phantomschmerz nicht kennen, der einen überkommt, wenn auf viel zu erwachsene Ohren trifft, was man als junger Mensch mit heißem Herzen gehört hat. Wie gern wäre ich wieder wie sie ein unbeschriebenes Blatt, das noch nicht alles schon kennt. Als Kind habe ich wochenlang gerätselt, wie Menschen etwas so Vollkommenes erschaffen können wie Sloop John B von den Beach Boys. Stattdessen heute: Been there, done that.
Wenigstens bleibt mir die Rolle des Missionars, der die Fackel weitergibt, dachte ich mir. Wofür hat man schließlich das ganze Zeug rumstehen? Wir Babyboomer sind die Generation, die das Privileg hatte, mit Pop groß werden zu dürfen. Seine Metamorphosen begleiteten uns durchs Leben. Heute sind Beat, Rock, Punk und Techno Geschichte. Was für ein enormes Vermächtnis, wenn ich dagegen an die Handvoll Schallplatten denke, die bei meiner Mutter im Regal standen, als die Popmusik, wie wir sie kennen, jung war. Aber womit anfangen, gibt es so was wie einen Kanon des guten Geschmacks? Musikalische Bildung fängt ja früh an. Und sie ist anfällig für Verirrungen. Ja, ich mochte Dylan und Cohen und die Beatles als Kind, aber eben auch Vader Abraham und sein Lied der Schlümpfe. Ich möchte meine Kinder nicht an Helene Fischer verlieren, schon aus Selbstschutz.
Voriges Weihnachten habe ich meiner Tochter einen iPod geschenkt. Ich stand vor der Frage, was soll ich draufspielen. Ich gab mir viel Mühe, konsultierte Best-of-Listen im Internet, achtete auf eingängige Melodien. Mischte Lieblingsstücke und Klassiker. Und natürlich sollte die Playlist auch ganz nebenbei ein Querschnitt durch sechzig Jahre Popgeschichte sein. Drunter machte ich es nicht. Als ich nach Tagen immer noch über die richtige, pädagogisch wertvolle Reihenfolge der Stücke sinnierte, merkte ich, dass etwas falsch lief. Dass mich Leonard Cohen damals nur deshalb so einnahm, weil er einfach da war. Ohne dass meine Mutter mir ihn weihevoll nahebrachte. Nur Musik, die man selbst entdeckt, gehört einem wirklich. Ich merkte, dass ich wie der Vater in Loriots Pappa ante Portas war, der seinem Sohn einen alten, viel zu großen Mantel um die Schultern legt mit den Worten: »Sitzt wie angegossen!«
Ich brach mein Projekt ab und lud zusammenhanglos ein paar Beatles-Songs auf das Gerät, Bangles, Abba, Janelle Monáe, all das, was meine Tochter von allein in meinem CD-Regal gefunden hatte. Man muss die Dinge laufen lassen. Der iPod verschwand bald in der Schublade. Über David Bowie aber hielt meine Tochter ein paar Wochen nach seinem Tod ein Referat. Das Plakat, das sie dafür bastelte, ziert seitdem ihre Zimmertür. Er ist ihre erste musikalische Liebe. Manchmal ertönen seine Songs zehnmal hintereinander aus ihrem Zimmer. Das stört mich nicht mehr. Die Lieder von heute sind ihre Erinnerungen von morgen.